Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf Europa

Bern, 23.11.2022 - Bundesrätin Simonetta Sommaruga am Europa Forum in Luzern, 23. November 2022

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft

Vor sieben Jahren war ich als Bundespräsidentin bei der SVP im Albisgüetli eingeladen und versuchte einen etwas humorvollen Einstieg.

Der lautete so: Ein englischer und ein Schweizer Parlamentarier bekommen beim lieben Gott eine Audienz: Der Engländer fragt den lieben Gott besorgt: Wann führen wir in England den Euro ein? Der liebe Gott sagt: Das weiss ich nicht so genau. Aber sicher nicht mehr in deiner Amtszeit.

Dann ist der Schweizer an der Reihe und fragt den lieben Gott: Und wann tritt die Schweiz der EU bei? Sagt der liebe Gott: Auch das weiss ich nicht genau. Aber sicher nicht mehr in meiner Amtszeit.

Man fand das damals lustig – den Rest meiner Rede zu den Menschenrechten dann allerdings weniger.

Heute Abend treffen sich ein Engländer, ein Deutscher und eine Schweizerin, um über Europa zu reden.

Das könnte auch der Anfang eines Witzes sein. Es ist aber Ihr Programm. Ich weiss noch nicht, ob das lustig wird, aber spannend auf jeden Fall.

Geschätzte Anwesende

Wir haben Krieg in Europa. Schon jetzt wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf ganz verschiedene Bereiche aus, auch bei uns: Auf die Energieversorgung, auf die Asylpolitik, aber auch auf die militärische Verteidigung. Darüber hinaus wirft der Krieg in der Ukraine auch ganz grundlegende Fragen auf. Im Kern geht es für mich darum, wie sich die Schweiz aussenpolitisch positioniert. Wo gehören wir hin, wo sind unsere Verbündeten und wie können wir unsere Interessen wirksam verwirklichen?

Vor 30 Jahren hat die Bevölkerung den Beitritt zum EWR abgelehnt. Seither fremdeln wir gegenüber Europa. Wir haben zwar die Bilateralen I und II unterzeichnet. Zu wirklich mehr hat es aber nicht gereicht. Die Geschichte des Rahmenabkommens kennen Sie alle.

Statt nach Europa hat sich die Schweiz in alle Himmelsrichtungen orientiert. Wir haben weit nach Osten geschaut, nach Russland und China, und wir haben engere Verflechtungen mit den USA angestrebt. Das ersehnte Freihandelsabkommen mit den USA ist aber nie zustande gekommen, genauso wenig wie jenes mit Indien. Dafür haben wir solche Abkommen mit Kolumbien, mit Indonesien und mit China abgeschlossen. Mit China wir haben zudem eine Absichtserklärung zur neuen Seidenstrasse unterzeichnet. Darin haben wir bekräftigt, die Zusammenarbeit mit China entlang der umstrittenen Seidenstrasse auszubauen, beim Handel und bei Investitionen.

Die paar Beispiele zeigen: Wir sind weit in die Welt hinaus gezogen und haben voll auf die Globalisierung gesetzt – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch.

Doch nun zeigt sich: Die Globalisierung stösst an ihre Grenzen.

Da sind zunächst die ideellen Versprechungen, die einmal mit der Globalisierung verknüpft wurden. Man wollte nicht nur den Handel globalisieren, sondern auch Menschenrechte und Demokratie. «Wandel durch Handel», war hier das Schlagwort. Eine Öffnung der Märkte bringe automatisch auch eine politische Öffnung, so die Idee. Ein anderes die McDonald’s-Theorie: Zwei Länder, in denen ein McDonald’s steht, führen nicht Krieg gegeneinander.

Es ist anders gekommen. Staaten, mit denen unser Handelsvolumen stark angewachsen ist, haben sich punkto Demokratie und Menschenrechte keinen Zentimeter bewegt. Sie sind nicht freier, sondern autoritärer geworden. Und Hamburger und Happy Meal haben Kriege auch nicht verhindern können.

Was aber ist mit den wirtschaftlichen Versprechungen der Globalisierung? Die Theorie ist einfach: Es wird dort produziert, wo es wirtschaftlich am günstigsten ist. Und von dort aus kommen die Güter dann ohne Schranken dorthin, wo sie gebraucht werden. Dadurch steigert sich unser Wohlstand.

Natürlich profitiert gerade die Schweiz viel vom Welthandel, von offenen Grenzen, von Exporten, das ist unbestritten. Auch heissen wir Investoren und damit auch Kapital aus der ganzen Welt willkommen. Wir sind nicht besonders wählerisch, denn auch dies ist Teil unseres Wohlstands. Wir sollten aber nicht blauäugig sein. Es kann der Schweiz nicht egal sein, wo und unter welchen Bedingungen gewisse Güter produziert werden, wer bei uns in systemrelevante Branchen investiert und wem unsere Infrastrukturen gehören.

Die Globalisierung schafft nämlich Abhängigkeiten, sie macht uns verwundbar für macht- und geopolitisch motivierte Manöver. Wenn die Globalisierung am Ende dazu führt, dass einzelne autokratische Staaten uns gegenüber am längeren Hebel sitzen, dann ist es höchste Zeit, ein paar Gewissheiten zu hinterfragen.

Was jetzt im Gasbereich geschieht, ist für viele ein Lehrstück. Seit Russland seine Gaslieferungen in den Westen gestoppt hat, wird vielen bewusst, wie abhängig wir uns im Energiebereich gemacht haben. So wie es jetzt aussieht, kommen wir zwar mit einem blauen Auge durch den Winter. Die Reserven und Polster, die der Bundesrat vorbereitet hat, helfen.

Aber es wird in den kommenden Wintern nicht einfacher. Darum ist für mich seit langem klar: Unser Land muss so rasch wie möglich wegkommen von der Abhängigkeit, die wir beim Gas und Öl haben. Das schaffen wir nur, wenn wir die einheimischen Energien ausbauen.

Wir müssen als Schweiz robuster werden. Das gilt für die Energieversorgung, es gilt aber auch in anderen Bereichen. Wir müssen unsere zentralen Infrastrukturen kontrollieren, wir müssen den Service Public gegen Privatisierungen verteidigen, und wir brauchen Schlüsselindustrien bei uns. Und mit «uns» meine ich die Schweiz und Europa.

Ich begrüsse es deshalb sehr, dass der Bund künftig bei Übernahmen von Schweizer Firmen ein Vetorecht bekommen soll, sofern mit einem Verkauf unsere Sicherheit tangiert wird. Wir wären mit einer solchen Regelung nicht allein, im Gegenteil: Wenn die deutsche Regierung jetzt nämlich den Verkauf einer Chipfertigung nach China verbietet, macht sie genau dies.

Die Globalisierung ist wie jede Ideologie von der Realität eingeholt worden. Die einen haben es schon immer geahnt, für die anderen ist es ein jähes Erwachen. Der Markt allein wird es nicht richten. Wenn die Globalisierung an Grenzen stösst, kommt auch unsere Aussenpolitik der letzten 30 Jahre an ihre Grenzen.

In einer solchen Situation müssen wir uns ehrlich fragen: Stimmt unser aussenpolitischer Kompass noch? Ich finde nicht.

Gerade die letzten Monate haben uns nochmals gezeigt, wo wir hingehören, nicht nur geografisch, sondern auch aufgrund unserer Überzeugungen. Die Schweiz steht für Demokratie und Menschenrechte, für Selbst- und Mitbestimmung, für das friedliche Nebeneinander von Staaten. Und Europa tut dies auch.

Unser naheliegender Partner ist darum Europa.

Wir sollten uns deshalb wieder stärker nach Europa orientieren. Europa ist unser erster Handelspartner, und Europa ist unser zuverlässigster Partner.

Die Zeit für naive Schwärmereien, für Abenteuer in fernen Ländern, die ist vorbei. Jetzt braucht es den kühlen Verstand. Und der fordert das Naheliegende:

Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf Europa.

Für diese Rückbesinnung gibt es erste Anzeichen. Der Bundesrat hat vor Kurzem entschieden, dass die Schweiz die Sicherheitspolitik konsequenter als bisher auf die internationale Zusammenarbeit ausrichten soll – sprich auf die EU und die Nato. Nahe an Europa ist die Schweiz auch dann, wenn es darum geht, die Sanktionen der EU gegen Russland zu übernehmen.

Wie immer in der Schweiz erfolgt dies nicht ohne Nebengeräusche, manchmal brauchen wir dafür etwas länger Zeit. Mir war es jedenfalls sehr wichtig, und darum habe ich auch darauf gedrängt, dass die Schweiz bei den Sanktionen mitzieht. Wir verteidigen mit den Sanktionen dieselben Werte wie die EU. Russland führt mit Waffen Krieg, setzt aber auch auf seine Rohstoffe und Propaganda, um freiheitliche Demokratien zu schwächen.

Zur Rückbesinnung auf Europa gehört aber vor allem, dass der Bundesrat ein neues Paket mit der EU anstrebt. Wir brauchen ein drittes bilaterales Paket, das einzelne Sektoren abdeckt, das aber auch die institutionellen Fragen angeht, und zwar Abkommen für Abkommen.

Ein solches Paket kommt nicht einfach so zu Weihnachten. Es wird das Resultat eines zähen Ringens sein, mit Europa, aber auch in der Schweiz selber.

Dabei hilft, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass sich die Dinge seit 1992 nicht so entwickelt haben, wie sich dies einige vorgestellt haben.

Freiheit und Demokratie haben sich nicht globalisiert. Stattdessen bilden sich neue Machtblöcke mit autoritär regierten Staaten auf der einen Seite und mit demokratischen Ländern auf der anderen. Und die Gegensätze und Konflikte verschärfen sich, auch wirtschaftlich. In einer solchen Welt können wir nicht so tun, als seien wir «blockfrei».

Wir müssen darum heute, 30 Jahre nach dem Nein zum EWR, endlich deutlich sagen: «Aussenpolitik muss mehr sein als Aussenwirtschaftspolitik.»

Es braucht mehr Zusammenarbeit mit jenen Ländern, die unsere ureigenen Werte teilen: Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung. Und diese Staaten finden wir zuerst in Europa.

Geschätzte Anwesende

Bei uns in der Schweiz ist jeder und jede auch ein wenig Bundesrat. Denn alle können mitbestimmen und mitgestalten.

Das ist das Schöne an der Schweiz, und es auch ist das Schöne, wenn man zurücktritt. Man ist weiterhin ein wenig Bundesrätin, zusammen mit über 5 Millionen anderen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern. Ich werde deshalb auch in Zukunft unser Verhältnis zu Europa mitgestalten können. Zusammen mit Ihnen.

Ich danke Ihnen für Ihr Engagement und überbringe Ihnen im Namen der Landesregierung die besten Wünsche.


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