Grenzen überschreiten um Heimat zu schaffen

Bern, 01.08.2014 - Rede von Bundesrätin Doris Leuthard am Jubiläumsfest anlässlich 100 Jahre Schweizerischer Nationalpark am 1. August 2014 in Zernez.

Sehr geehrter Herr Giacometti
Sehr geehrter Herr Professor Haller
Sehr geehrter Herr Hohenegger
Sehr geehrte Mitglieder der Eidgenössischen Nationalparkkommission
Sehr geehrter Herr Regierungsrat Jäger
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Parkgemeinden
Sehr geehrte Damen und Herren National- und Ständeräte
Charas amias e chars amis da la Svizra rumantscha
Dear Guest from all over the world.

Was hat der Nationalpark mit dem 1. August zu tun?
Zwei Geburtstage – zwei Feste?
Eigentlich wenig !
Und dennoch: Sehr viel !

Hier stehen wir heute …

  • klein vor einer grandiosen Bergwelt,
  • ein Mosaiksteinchen in der faszinierenden Vielfalt der Natur.

Ich bin stolz auf das, was unsere Vorfahren aus dieser Schweiz gemacht haben.
Ich bin stolz auf unsere Bürgerinnen und Bürger heute – auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind. 
Jetzt gilt es nachzudenken und die Weichen zu stellen, wie wir gemeinsam die Zukunft dieses Landes gestalten, damit auch die nächsten Generationen rückblickend stolz sein können auf unsere Entscheidungen, damit man auch in der Zukunft sagen kann: die haben das gut gemacht.

Hier in der Stille der Berge und in Demut vor der Natur darüber nachzudenken und Parallelen zu ziehen, dafür eignet sich der Nationalpark ganz besonders.
Nicht weil hier Wildnis herrscht – sondern, weil die Menschen hier gemeinsam Grosses geschaffen haben.
Gerne überbringe ich Ihnen daher die Glückwünsche des Bundesrates zum 100-jährigen Bestehen.

  • Hier sehen wir, was Ideen, Hartnäckigkeit und Wille bewirken können, wenn man sich einsetzt.
  • Hier passen wir uns der Natur an, nicht die Natur uns.
  • In diesem Freiluftlabor können wir die Natur studieren und lernen.

Mir ist es wichtig, den Menschen für ihren Einsatz für die Schweiz und speziell für den Nationalpark zu danken:

  • Dem Berner Nationalrat Fritz Bühlmann, der schon vor 110 Jahren (1904) die Idee für einen solchen Park hatte.
  • Den eigentlichen Gründern Fritz und Paul Sarasin, Carl Schröter und Steivan Brunies. Sie sahen die Natur in Gefahr.
  • Ich danke den vielen Frauen und Männer, die in diesen 100 Jahren dem Nationalpark Sorge getragen, ihn unterstützt haben, ihr Umfeld so gut kennen, dass sie uns sogar auf den Tag genau melden, wann das letzte Murmeltier den Winterschlaf antritt!

Vor 100 Jahren haben sie gekämpft.
…zuerst gegen die Bären, damals gab es dazu eine Debatte, „… torkelnd im Gefühl ihrer Sicherheit (…) fallen sie in die Ziegen- und Schafställe (…) ein …“ , so sah man es 1914 im Nationalrat.

Bekämpft werden die Bären heute wieder – als „Problembären“, die „vergrämt“  werden müssen.

…dann gab es Widerstand gegen die Italiener „… ein rücksichtsloser Wilderer …“ , so ein Zitat aus dem Wortprotokoll des Nationalrates auch von 1914.

Auf Ablehnung stossen Fremde auch heute wieder.
Sie – die Fremden – sollen schuld sein an Lohndruck, an hohen Mieten, vollen Zügen und einem überbauten Land.
Dabei brauchen wir sie – als Arbeiter, als Gäste, als geistigen Input, als Freunde und Nachbarn, als kulturelle Bereicherung.

Kann also die Geschichte rund um den Nationalpark Spiegelbild für eine erfolgreiche Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatspolitik sein?

Warum nicht ?

Der Nationalpark ist mehr als nur Freizeitvergnügen.
So wie der Föderalismus mehr ist als nur eine Ansammlung von Kantonen mit eigenen Meinungen, Wünschen und Forderungen.
So wie die Schweiz nicht nur Tummelplatz für die Spassgesellschaft ist.

Der Nationalpark ist wichtig für unseren Umgang mit der Umwelt, für wissenschaftliche Erkenntnisse – auch für die Entwicklung einer Strategie des Bundesrates für die Biodiversität.
Hier genau hinzusehen, bringt uns im Umgang mit unserer Umwelt weiter.
Denn vielerorts auf diesem Planeten gehen Menschen nachlässig mit unseren natürlichen Ressourcen um – oft sogar missbräuchlich.
Auch unser Fussabdruck in der Landschaft ist zu gross.
Auch wir können mehr tun und der Biodiversität, der Vielfalt von Pflanzen und Tieren, mehr Sorge tragen.
Die Frage ist, ob wir das wollen, was wir bereit sind dafür zu tun und wie viel uns das wert ist.

Der Föderalismus ist Ausdruck des politischen Prinzips der Schweiz. Jede Staatsebene geniesst Autonomien in Bereichen, wo sie kompetent ist, nahe beim Bürger.
Der Föderalismus lässt der regionalen Vielfalt Raum, so wie hier im Kanton Graubünden.
Er schafft Heimat, Verbundenheit, Lebensgefühl und fördert damit gleichzeitig das politische Engagement und den Wettbewerb unter den Kantonen.
Bei der Gestaltung der Zukunft ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen wichtig.
Wichtig ist, dass die Kantone nicht nur ihre eigenen Interessen im Auge haben, sondern auch das Gesamtbild des Landes.

Damals, vor 100 Jahren, hat man Sorge getragen zu einer Schweiz mit knapp 4 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner.
In diesen Jahren befand sich die Schweiz mitten in einem grossen technischen Umbruch; etwa mit der Gründung der RhB und dem Bau der Bahnanlagen im Bündnerland, mit der Jungfraubahn oder den ersten Stauseen.
Der Nationalpark war Teil einer grossen Aufbruchsstimmung – und gleichzeitig kam die Erkenntnis auf, dass man nicht übertreiben darf.
Man nahm den Weckruf der Natur ernst.

Und heute müssen wir eine Schweiz mit rund 8 Millionen Einwohnern organisieren.
Nach den Prinzipien – zuhause verwurzelt, in der Welt vernetzt; mit vernünftigen Beziehungen zur EU; mit vielfältigen Beziehungen zu Freunden ausserhalb Europas – weltweit – grundsätzliche Weltoffenheit.
Heute stehen wir wieder mitten in einer Phase des Umbruchs:

  • International stehen wir in einem harten Wettbewerb. Die Marke Schweiz müssen wir neu erfinden, neu positionieren.
  • National gilt es unser grossartiges soziales Netzwerk zukunftsfähig zu machen, wollen wir auch den nächsten Generationen noch eine zahlungsfähige AHV und Pensionskasse hinterlassen.
  • Die in die Jahre gekommenen nationalen Infrastrukturen von Strasse, Schiene und Energie müssen renoviert und auf eine Schweiz mit mehr Menschen ausgerichtet werden.

Wir schaffen auch das – mit Tatkraft, Investitionen und Köpfchen.
Mit der Bereitschaft anzupacken.
Mit dem guten Willen, sich mit dem Rest der Welt auseinanderzusetzen.
Nach dem Prinzip, gemeinsam geht es besser als einsam.
Sonst haben wir verloren – sonst stimmt, was Franzosen dazu sagen: „Les absents ont toujours tort!“

Wir dürfen nicht abseits stehen.
Wir müssen dabei sein, wenn wir unsere Zukunft selber gestalten wollen.
Deshalb brauchen wir ein Bild, eine Vorstellung für die Schweiz der Zukunft.
Für die Menschen, ihren Wohnraum und ihre Arbeit.
Auch für die Natur.
Nur in einem Miteinander von Mensch und Natur schaffen wir Wohlstand, Wohlfahrt und Lebensqualität.

Wer glaubt, man müsse nichts verändern, man könne auf dem Erreichten ausruhen, der irrt.
Schauen Sie die Berge an.
Sie verändern sich.
Entstanden durch die Verschiebung der Erdplatten, werden sie von Wind und Wetter geformt – jeden Tag, auch wenn wir es mit blossem Auge nicht wahrnehmen können.
Die Berge verändern sich.
Die Natur verändert sich.
Also kann sich auch der Mensch verändern.
Wir tun gut daran – wie der Nationalpark auch – dabei unsere Umgebung einzubeziehen.
Vergessen wir nicht: Die Schweiz ist nicht einzigartig dank der vielen historischen Prunkbauten oder der Parks von Adligen aus imperialer Vergangenheit.
Wir leben von der Schönheit unserer identitätsstiftenden Umwelt.
Die Landschaft ist deshalb unser Kapital.
Die CO2-Belastung, der Klimawandel – das macht nicht vor dem Nationalpark halt.
Auch der Bär nicht – er ist zwar nicht ein Masseneinwanderer, dafür aber ein massiger Einwanderer. 
Der Nationalpark entwickelt sich – vor 14 Jahren wurde ja die Seenplatte von Macun aufgenommen.
Und der letztjährige Umweltunfall am Spöl hat gezeigt, welche Wechselwirkungen urplötzlich auftreten können.

In dieser Welt der gegenseitigen Abhängigkeiten leben wir.
Unsere Schweiz ist klein und kann die Welt nicht allein verändern.
Wir können keine Kriege und Unglücksfälle verhindern.
Aber wir können jeden Tag einen Beitrag leisten zum Guten, zum Besseren.
Mit Abschottung können wir Einflüsse von aussen nicht verhindern.
Besser ist, wir nutzen unseren Einfluss etwa in multilateralen Gremien, wo alle Länder dieselben Rechte haben.
Besser ist, wir nutzen unser Erreichtes als Vorbild für andere.
Besser ist, wir helfen, wo anderen Ländern die Mittel und das Know How fehlen.
Das ist die Marke Schweiz.
Das stärkt die Institutionen.
Das macht uns zu einer stolzen Nation.
Sehen wir im Umbruch das Positive - mit Selbstvertrauen.

Zukunft schaffen wir so, wie die Gründer vor 100 Jahren den Nationalpark geschaffen haben.
Den Kopf brauchen, und die Hände.
Im Konsens, statt mit Widerspruch oder steter Besserwisserei.
Politik mitbestimmend, statt Politik konsumierend.
Eine Vision entwickelnd und sie mutig umsetzen.
Wenn man so jeden Abend beim Einschlafen mit sich im Reinen ist, das ist Erfolg.

In den letzten 100 Jahren haben wir die Schweiz erfolgreich gemacht – im Vergleich zu unserem Umfeld in Europa sogar sehr erfolgreich.
Das war harte Arbeit, Leistungsbereitschaft und Offenheit für Neues.
So wie Ludwig Marcuse sagt: „Die Enthusiasten haben nie Recht, die Skeptiker immer. Dafür schaffen nicht sie, sondern jene Neues.“
Helfen Sie alle heute mit, die Schweiz für die Zukunft fit zu machen.

Meine Vision einer Schweiz von Morgen ist es, dass

  • wir an unserer erfolgreichen Schweiz weiterbauen und nicht still stehen,
  • wir uns weiter einsetzen für Wachstum, aber nicht auf Kosten der sozialen Kohäsion oder der Umwelt, sondern im Einklang,
  • dass wir das entwickeln, was für unsere Zukunft nötig ist wie eine gute Bildung, berufliche Perspektiven, Sicherheit, eine moderne Grundversorgung und Infrastrukturen,
  • dass wir das gemeinsam machen –  nicht eigensüchtig, sondern im Interesse der Gemeinschaft. Mutig, positiv, ohne stets Verantwortliche zu kritisieren, zu nörgeln und ohne Andersdenkende schlecht zu machen.

Bauen wir eine Plattform für unsere Kinder, damit sie die Schweiz nach ihren Bedürfnissen weiter gestalten können.

Fürchtet euch dabei nicht vor Veränderung.
Vergrabt euch nicht hinter Geschichten und Mythen.
Brecht die Krusten der Gewohnheit auf.
Öffnet Augen und Herzen.

Sucht das politische und gesellschaftliche Miteinander, den Dialog zwischen jung und alt, zwischen Stadt und Land, zwischen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen.
Sprecht miteinander, so wie heute am 1. August.
Tauscht euch aus, so wie dies die Wissenschaftler aus dem Nationalpark erfolgreich tun – national und international.
Macht euch ein Bild darüber, wie die Schweiz in 20, 30 Jahren aussehen soll.
Baut an der Fan-Meile der Demokratie weiter.

An jedem Tag !
Nicht nur am 1. August – auch am 2. und am 3. August.

Staunen Sie in diesem herrlichen Nationalpark.
Geniessen Sie unser schönes Land.
Lassen Sie uns dieses Land gemeinsam und auch in Zukunft schön und lebenswert erhalten.

Ich danke allen für ihren ganz persönlichen Einsatz.
Viva la Svizra Rumantscha!
Viva la Svizra !


Adresse für Rückfragen

Kommunikation UVEK, Tel. +41 58 462 55 11


Herausgeber

Generalsekretariat UVEK
https://www.uvek.admin.ch/uvek/de/home.html

https://www.uvek.admin.ch/content/uvek/de/home/uvek/medien/medienmitteilungen.msg-id-53889.html