«Ein Nein zum Autobahnausbau stoppt die Zuwanderung nicht»

Im Interview mit der SonntagsZeitung äussert sich Bundesrat Albert Rösti zu den punktuellen Erweiterungen der Nationalstrassen, über die am 24. November abgestimmt wird: «Eine funktionierende Infrastruktur ist essentiell für das Zusammenleben in unserem Land.»

SonntagsZeitung, 17.11.2024

Interview von Adrian Schmid und Mischa Aebi


Herr Rösti, was ist im Abstimmungskampf schiefgelaufen?

Jetzt warten wir mal den nächsten Sonntag ab. Gemäss Umfrage wird die Abstimmung zwar knapp ausfallen, aber sie kann gewonnen werden. Was wie gelaufen ist, können wir dann diskutieren, wenn das Resultat vorliegt. Für mich war immer klar, dass es ein enges Rennen geben wird.

Das Problem ist doch, dass die meisten Leute von den sechs Ausbauprojekten gar nichts haben, da sie ganz woanders leben.

Das ist eine falsche Annahme. Alle Menschen profitieren vom Autobahnausbau. Selbst die, die kein Auto haben. Sie haben einen Nutzen beim Gütertransport. Jedes Produkt von der Schokolade bis zum Mineralwasser wurde mehrmals mit dem Lastwagen transportiert, ehe es in den Läden in den Regalen steht.

Ist das denn so schlimm, wenn das Mineralwasser wegen des Staus auf der Autobahn eine halbe Stunde später im Quartierladen ankommt?

Es geht nicht um die halbe Stunde eines einzelnen Lastwagens. Denken Sie nur an die Chauffeure, die tagtäglich stecken bleiben und die Kosten für alle Transporte insgesamt. Stau ist ein Sicherheits- und Umweltrisiko. Beim Anfahren und Abbremsen verbraucht ein Lastwagen je nach Grösse gut zwei Liter Diesel. Wir haben schon jetzt schweizweit 48’000 Staustunden pro Jahr. Als Verkehrsminister kann ich es mir nicht leisten, zu sagen, das sei okay. Der Stau ist für mich eine Katastrophe und vor allem für alle, die auf ein funktionierendes Nationalstrassennetz angewiesen sind.

Die Gegner sagen aber, wer Strassen sät, wird noch mehr Verkehr ernten.

Das ist Quatsch. Ich höre diesen Spruch seit Wochen, und er stimmt trotzdem nicht.

Selbst Fachleute sagen, dass es langfristig gesehen mehr Verkehr und mehr Stau geben wird.

Man muss das schon etwas differenzierter anschauen. Es ist ein Unterschied, ob eine Strasse neu gebaut oder nur erweitert wird. Als ich klein war, gabs noch keine Strasse zu unserer Alp im Ueschinental bei Kandersteg. Dann wurde eine gebaut, und diese verursachte neuen Verkehr. Aber wenn wir die gleiche Strasse jetzt etwas erweitern, fahren deswegen nicht mehr Autos auf die Alp.

Sie wollen allen Ernstes ein Alpsträsschen mit der A1 vergleichen?

Wenn wir eine Autobahn ausbauen, gibt es nicht mehr Verkehr. Wir holen einfach die Autos zurück auf die Autobahn, die wegen des Staus auf die Nebenstrassen ausgewichen sind. Das entlastet die Dörfer. Ein klassisches Beispiel ist der Ausbau am Walensee. Das Trio Eugster sang einst vom Qualensee, als man dort ständig im Stau stand.

50 Prozent der Pendlerinnen und Pendler brauchen das Auto und stehen fast täglich im Stau. Eigentlich sollte es ein Kinderspiel sein, diese Abstimmung zu gewinnen.

Das stimmt. Aber die Gegner haben das gemacht, was ich befürchtet habe. Sie wollen nicht über die sechs Projekte sprechen, über die wir abstimmen. Sie haben stattdessen eine Grundsatzdebatte lanciert und spielen jetzt das Auto gegen den öffentlichen Verkehr aus.

War das nicht zu erwarten?

Was die Gegner machen, ist nicht ehrlich. 75 Prozent des Personenverkehrs in der Schweiz wird nun mal über das Auto abgewickelt. Der öffentliche Verkehr macht nur rund 21 Prozent aus. Wir können deshalb nicht allen Pendlern sagen, sie sollen auf den Zug umsteigen. Dazu haben wir nicht genug Kapazitäten. Zudem haben wir bereits Investitionen von 27 Milliarden Franken in den nächsten 20 Jahren für den ÖV aufgegleist. Die Investitionen in den Strassenverkehr sind deutlich geringer. Wir dürfen aber das Auto nicht vernachlässigen. Die Investitionen werden von den Autofahrerinnen und -fahrern bezahlt.

Trotzdem hat es die Vorlage gerade auch auf dem Land schwer, wo die Leute mehr aufs Auto angewiesen sind als in den Städten. Ist das nicht erstaunlich?

Das bereitet mir ernsthafte Sorgen. Eine funktionierende Infrastruktur ist essenziell für das Zusammenleben in unserem Land. Wenn wir jetzt die Weichen falsch stellen, riskieren wir, dass wir in einigen Jahren Zustände wie jetzt in Deutschland bei der Bahn haben. Ich kann mir die Skepsis auf dem Land nur so erklären, dass viele des ständigen Wachstums überdrüssig geworden sind. Aber da liegt ein Missverständnis vor.

Inwiefern? Die 9-Millionen-Schweiz ist ein Fakt.

Wir machen den Autobahnausbau für die Schweizerinnen und Schweizer, die schon hier leben. Das Problem der Zuwanderung müssen wir andernorts lösen. Beim Autobahnausbau ein Exempel zu statuieren, ist für mich der falsche Weg.

Das müssen Sie insbesondere den Wählerinnen und Wählern Ihrer Partei erzählen. Die Zustimmung in der SVP ist weniger hoch als in der FDP.

Die FDP hat als wirtschaftsnahe Partei eingesehen, wie wichtig eine gute Infrastruktur ist. An meine Leute kann ich nur appellieren, der Vorlage zuzustimmen. Sonst strafen sie sich selbst. Ein Nein zum Autobahnausbau stoppt die Zuwanderung nicht, und der Stau verschwindet erst recht nicht.

Es fällt auf, dass Sie einen extrem aktiven Abstimmungskampf führen. Haben Sie vielleicht zu viel gemacht?

Das glaube ich nicht. Ich bin lange genug in der Politik, um zu wissen, dass man in einer Abstimmung nie genug Präsenz zeigen kann. Es ist kein Kampf, die Aufgabe ist, die Bevölkerung darüber zu informieren, was passiert, wenn man eine Vorlage annimmt, und was passiert, wenn man sie ablehnt. Ich halte es für wichtig, diese Informationen möglichst direkt und nah an die Leute zu bringen. Deshalb nehme ich, soweit es geht, an jeder Abstimmungsveranstaltung teil, zu der ich eingeladen werde.

Könnte es nicht auch sein, dass viele die Vorlage ablehnen, weil Sie als ehemaliger Auto- und Öllobbyist dafür einstehen?

Das glaube ich nicht. Und das sage ich nicht aus Selbstschutz. Ich bin überzeugt, dass jene, die aus ideologischen Gründen dagegen sind, sich ohnehin nicht überzeugen lassen – egal, wer die Vorlage vertritt. Gleichzeitig denke ich, dass ich bei jenen, die grundsätzlich für den Ausbau sind, möglicherweise sogar besser mobilisieren kann. Was oft vergessen wird: Die meisten der Projekte, über die wir jetzt abstimmen, wurden noch unter meinen Vorgängerinnen Simonetta Sommaruga und Doris Leuthard aufgegleist. Hinter diesen Projekten stehen mehr als 10 Jahre sorgfältiger Planungen und Projektarbeit.

Trotzdem: Bei den Linken, insbesondere den Grünen, gelten Sie als Feindbild. Könnte es nicht sein, dass im Abstimmungskampf jetzt ein Anti-SVP-Reflex greift?

Ich habe nicht das Gefühl, dass ich für die Grünen ein Feindbild bin. Aus dem Parlament bekomme ich ganz andere Signale. Die Zusammenarbeit mit den Grünen läuft gut.

Die Gegner argumentieren, dass bei einer Annahme der Ausbauprojekte womöglich die Mineralölsteuer – und damit der Benzinpreis – angehoben werden müsste, weil dem Topf für die Autobahnfinanzierung das Geld ausgehen könnte.

Das kann ich klipp und klar verneinen: Der Benzinpreis wird wegen dieser Projekte nicht angehoben werden müssen.

Letzte Woche wurden jedoch Dokumente aus der Verwaltung öffentlich, die zeigen, dass das Finanzdepartement von Karin Keller-Sutter das anders sieht.

Diese Dokumente wurden falsch interpretiert. Das Gesetz besagt, dass die Mineralölsteuer nur dann erhöht werden muss, wenn der Betrag im Topf für die Autobahnfinanzierung unter 500 Millionen Franken fällt. Unsere Berechnungen zeigen aber eindeutig, dass das vorhandene Geld für die sechs Ausbauprojekte ausreicht.

Aber bei späteren Projekten kann das Finanzdepartement eine Steuererhöhung nicht ausschliessen. Deshalb verlangte es, dass im Abstimmungsbüchlein die Formulierung korrigiert wird.

Das ist korrekt, und ich finde es auch richtig, dass das Finanzdepartement hier präzise ist. Der Zeithorizont, auf den sich diese Diskussion bezieht, ist jedoch so weit entfernt, dass die Frage einer möglichen Erhöhung der Mineralölsteuer reine Spekulation ist.

Wie ginge es denn weiter, wenn es trotz Ihren Warnungen ein Nein zum Autobahnausbau gibt?

Ich befürchte, dass es dann schwieriger wird, in die Autoinfrastruktur zu investieren.

Ist es also doch eine Grundsatzabstimmung?

Zu dem will ich die Vorlage nicht stilisieren. Es wurde nicht ein Referendum gegen den Autobahnausbau ergriffen, sondern ein Referendum gegen die sechs Projekte im Ausbauschritt 2023. Für mich ist ein Nein nicht das Ende des Autobahnausbaus. Aber man muss den Kantonen wie Zürich oder Tessin, die Projekte vorbereiten, schon sagen, dass es komplizierter werden wird, diese zu realisieren.

Und was passiert mit den aktuellen sechs Projekten?

Diese wären bei einem Nein am nächsten Sonntagabend vorerst vom Tisch. Politik ist aber nie alternativlos. Der Stau an den neuralgischen Punkten wird sich nicht einfach auflösen.

https://www.uvek.admin.ch/content/uvek/fr/home/detec/medias/interviews-et-prises-de-position/sonntagszeitung-20241117.html