Bundesrat Albert Rösti zum Ausbau der erneuerbaren Energien, zur Versorgungssicherheit, zur Kernkraft und zum EU-Stromabkommen
Bundesrat Albert Rösti spricht im Interview mit der NZZ am Sonntag über das Stocken beim Ausbau der erneuerbaren Energien und ob zum Vermeiden einer Mangellage neue Kernkraftwerke nötig sind.
NZZ am Sonntag, 09.11.2025
Interview von Georg Humbel und Simon Marti
NZZ am Sonntag: Herr Bundesrat, vor Ihrer Wahl rief Ihre Partei nach einem Stromgeneral, der die Versorgungssicherheit garantiert. Erleben wir gerade das Waterloo des Albert Rösti?
Albert Rösti: Den Begriff Stromgeneral habe ich nie benutzt. Und von Waterloo kann keine Rede sein. Im Gegenteil.
Sie sind mit dem Erreichten also zufrieden?
Ich will als Bundesrat meinen verfassungsmässigen Auftrag bestmöglich erfüllen. Das heisst, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass eine sichere Stromversorgung möglich ist. Wir haben dazu drei Gesetze durchgebracht: eines zum Aufbau von Stromreserven für Notlagen, eines zur Förderung der erneuerbaren Energien und eines zur Beschleunigung der Bewilligungsverfahren. Wir sind auf Kurs.
Sie stellen das ein wenig gar rosig dar. Der Ausbau der erneuerbaren Energien harzt, das Stromabkommen mit der EU steht auf der Kippe, und der Widerstand gegen fossile Reservekraftwerke wächst, während bald das Atomkraftwerk Beznau vom Netz geht.
Jetzt drehen Sie meine Argumentation um, um mir eine Verantwortung zuzuschieben, die ich klar zurückweise. Ich warne schon lange davor, dass wir in 10 oder 20 Jahren zu wenig Strom haben werden. Aber ich kann keine Schaufel in die Hand nehmen und ein Wasserkraftwerk bauen. Ich kann es noch nicht einmal bewilligen, das ist Sache der Stromunternehmen sowie der Kantone und Gemeinden. Meine Aufgabe ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit neue Anlagen gebaut werden können.
Dachten Sie, Ihr Job wäre einfacher?
Warum brauchen wir mehr Strom? Die geopolitische Lage verlangt einen Ausbau der Produktion, vor allem aber ist es die Dekarbonisierung, die uns dazu zwingt. 60 Prozent unseres Energiebedarfs decken wir fossil, das müssen wir nach und nach ersetzen. Und ja, ich bin davon ausgegangen, dass jene, die stets einen Ausbau der erneuerbaren Energien gefordert haben, Hand bieten und auf Einsprachen verzichten.
Als Simonetta Sommaruga noch Energieministerin war, hat die SVP die SP-Bundesrätin scharf kritisiert. Jetzt stehen Sie in der Verantwortung – und es harzt enorm.
Ich habe nie bestritten, dass die Herausforderungen gross sind. Aber ich habe sicher diese Not-in-my-backyard-Mentalität unterschätzt.
Fakt ist, dass es beim Ausbau der Wasser-, Solar- und Windenergie zu langsam vorangeht.
Das räume ich ein. Und frage: Was bleibt übrig? Gas kommt klimapolitisch nicht infrage, und auf Importe können wir uns nicht verlassen. Da bleibt nur die Kernkraft. Darum schlägt der Bundesrat auch vor, das Neubauverbot für Kernkraftwerke aufzuheben. Würde der Zubau bei den erneuerbaren Energien vor allem für den Winter schneller geschehen, hätte ich diesen Vorschlag wohl nicht eingebracht.
Wann wird in der Schweiz ein neues Kernkraftwerk gebaut?
Die modernen «Small Modular Reactors» dürften in den nächsten fünf Jahren weltweit praxistauglich werden. Dann sind sie eine realistische Möglichkeit. Denn ein solcher Reaktor liefert die Leistung, die vergleichbar ist mit jener des abgeschalteten Kraftwerks Mühleberg. Allerdings ist der Bau eines neuen Kernkraftwerks in der Schweiz ein langwieriger Prozess, und am Schluss hat das Volk das letzte Wort.
Sie glauben, dass der Bau eines neuen Schweizer Kernkraftwerks absehbar ist?
Wenn Gesellschaft und Wirtschaft sicher sein wollen, dass es langfristig genügend Strom zu einem vernünftigen Preis gibt und wir an der Dekarbonisierung festhalten, dann ist es keine Frage des Glaubens. Sondern dann sage ich: Wir müssen die Option für den Bau eines neuen Kernkraftwerks mindestens offenhalten.
Da kommen wir nicht drum herum?
Angesichts des künftigen Strombedarfs ist die Antwort klar: Nein. Es geht nicht ohne Kernkraft. Ich lasse mich aber gerne überraschen: Wenn unerwartet bei der Windkraft die Post abgeht, unerwartet alle möglichen Wasserkraftwerke gebaut werden und unerwartet mehr alpine Solarkraftwerke entstehen, bin ich sicher der Erste, der auf die Kernkraft verzichtet. Ich wünsche mir die Option Kernkraft nicht, halte sie aber schlicht für erforderlich. Spätestens wenn die Kraftwerke Gösgen und Leibstadt vom Netz gehen, müssen wir in der Lage sein, Ersatz zu schaffen.
Ein neues Kernkraftwerk ist ein enormes wirtschaftliches Risiko für den Betreiber. Soll der Bund finanzielle Unterstützung leisten?
Es ist jetzt zu früh, über Kosten oder finanzielle Unterstützung zu sprechen. Die Investitionen und Risiken liegen beim Betreiber, nicht beim Staat. Erst wenn konkrete Projekte vorliegen und sich zeigt, dass erneuerbare Energien nicht ausreichen, wird über Finanzierung gesprochen. Bis dahin gilt: Fokus auf den schnellen Ausbau der Erneuerbaren.
Sie planen mittelfristig als Versicherung gegen Stromausfälle vier neue Gaskraftwerke. Glauben Sie ernsthaft, dass diese jemals gebaut werden?
Als Energieminister sage ich, was nötig ist, um in Notlagen gewappnet zu sein. Diese Kraftwerke sind nötig, darum lege ich die notwendigen Budgets dem Parlament vor. Die Gesetzesgrundlage war unbestritten. Ob die Räte aber jetzt auch das Geld sprechen, werden wir sehen.
Bezahlen müssen diese Notkraftwerke die Stromkonsumentinnen und -konsumenten. Bürgerliche und selbst SVP-Parteikollegen kritisieren Ihre Pläne als zu teuer.
Wir reden hier über 0,2 bis maximal 1 Rappen pro Kilowattstunde für die gesamte Stromreserve. Für einen Haushalt oder ein KMU ist das verhältnismässig. Wenn wir einen Stromausfall von mehreren Wochen haben, dann kostet das Milliarden.
Warum kommt dann jetzt mehr Kritik aus dem Parlament?
Als wir 2022 in der Stromkrise steckten, war praktisch niemand gegen Reservekraftwerke. Das ist heute anders, es gibt nun mehr Widerstand. Ich beobachte die Diskussion mit einer gewissen Sorge. Für die Wirtschaft ist die Versorgungssicherheit das A und O. Damit zu spielen, erachte ich als hochbrisant. Das ist eine Verantwortung, die ich nicht tragen kann.
Der Bund hat in Birr für Hunderte Millionen ein Notkraftwerk gebaut. Jetzt bricht man dieses ab und baut fast an der gleichen Stelle wieder für mehrere hundert Millionen Franken neue Anlagen. Das ist bizarr.
Den Bürgerinnen und Bürgern von Birr wurde das so versprochen, und darauf basiert ja auch die Bewilligung. Unter dieser Prämisse hat man dieses Werk überhaupt erst bauen können. Ich selber habe in Sitzungen immer wieder kritisch hinterfragt, ob man die bestehende Anlage nicht noch länger nutzen könnte. Aber ich habe mich schliesslich überzeugen lassen, dass es aus juristischen Gründen wirklich nicht möglich ist.
Warum denn nicht?
Eine weitere Bewilligung der bestehenden Anlage in Birr hätte ins Abseits geführt. Dann wären wir spätestens vor Bundesgericht abgeblitzt und hätten dann gar keine Lösung gehabt.
Ein weiteres Prestigeprojekt von Ihnen ist der Ausbau der Wasserkraft. Bis 2040 wollten Sie zwei Terawattstunden Produktion zubauen. Diesen Sommer mussten Sie einräumen, dass nur die Hälfte realisiert wird. Das ist ein Debakel.
Ja. Da gebe ich Ihnen recht. Das ist auch für mich enttäuschend.
Warum ist es so schwierig?
Bei den drei grössten Projekten, Grimsel, Trift und Gornerli, sind wir nicht so schlecht unterwegs. Bei den kleineren ist es schwieriger. Man muss fairerweise auch sagen, dass nicht nur der Umweltschutz das Problem ist. Es gibt teilweise auch technische Hindernisse, so dass nicht alle Anlagen gebaut werden können.
Wenn der Zubau im Inland dermassen harzt, ist es umso wichtiger, dass wir aus dem Ausland garantiert Strom kaufen können. Da hilft das neue EU-Stromabkommen.
Das Stromabkommen ist ein wertvoller Beitrag, aber es kann den Zubau im Inland nicht ersetzen. Bei einer Notlage, wenn es überall in Europa zu wenig Strom gibt, nützt uns auch ein Abkommen nichts.
Die Kritik am neuen Abkommen ist vernichtend. Die Bergkantone sind dagegen, die Mitte ebenso, und sogar die Strombranche ist skeptisch. Politisch ist das Abkommen damit schon fast tot.
Ich selbst habe vor den Verhandlungen gesagt, dass wir ein solches Abkommen nicht um jeden Preis brauchen. Es gelang dann aber, gute Kompromisse auszuhandeln, so dass der Bundesrat das Stromabkommen unterstützt. Die Stromunternehmen sind jetzt plötzlich sehr kritisch. Wieso? Weil wir die Stromkundinnen und -kunden vor einer kompletten Marktöffnung schützen wollen. Das geht nicht ohne Regulierung.
Den Linken geht schon diese teilweise Marktliberalisierung zu weit.
Die Gewerkschaften möchten den Markt gar nicht öffnen. Diese Konstellation macht es politisch sehr schwierig und erfordert eben diesen Kompromiss.
Diese Woche haben Forscher die neuen Klimaszenarien für die Schweiz präsentiert. Bis Ende Jahrhundert könnte sich die Schweiz um über 5 Grad erwärmen. Macht Ihnen das Sorgen?
Wenn die prognostizierten Umweltschäden eintreten, macht mir das schon Sorgen. Der Permafrost taut auf, und das führt zu einem höheren Risiko. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir die heiklen Stellen lokal überwachen werden, und dass in Vorwarnsysteme und Schutzmassnahmen investiert wird.
Wir haben diesen Sommer die zerstörerische Kraft der Natur im Lötschental gesehen. War Blatten nur der Anfang?
Nein, das glaube ich nicht. Es gab schon immer Naturereignisse. Blatten war ein besonderes Einzelereignis. Dass eine Bergflanke auf einen Gletscher stürzt und der unter der Last der Felsmassen abbricht und das ganze Dorf unter sich begräbt, ist eine ganz spezielle Konstellation. Das dürfte auch in Zukunft sehr selten sein.