Stromgesetz: Bundesrat Albert Rösti im Interview mit der NZZ

Im Interview mit der NZZ spricht Bundesrat Albert Rösti über die Vorlage für eine sichere Stromversorgung und die Umweltpolitik.

Neue Zürcher Zeitung, 17.05.2024

Interview von David Vonplon und David Biner


Herr Rösti, gemäss Umfrage ist das Stromgesetz auf Kurs. Bereits frohlockt die SP, dass sich bei einem Ja in der Abstimmung vom 9. Juni die Kernkraftwerke erübrigen würden. Sehen Sie das auch so?

Beim Stromgesetz geht es um den kurzfristigen Ausbau der erneuerbaren Energien Wasser, Sonne, Biomasse und Wind. Gleichzeitig bleiben die bestehenden Kernkraftwerke unverzichtbar. Sie sollen weiterlaufen, solange sie sicher sind. Ob es dereinst auch neue Kernkraftwerke braucht, wird der Bundesrat zu gegebener Zeit diskutieren. Es wäre unseriös, in der heutigen Zeit und in dieser turbulenten Welt ein Energiegesetz zu beschliessen, das mehr als dreissig Jahre unverändert gelten soll.


Ist das Stromgesetz also die Korrektur einer gescheiterten Politik?

So weit würde ich nicht gehen. Aber im vorliegenden Stromgesetz sehe ich ganz klar eine Korrektur. Die Energiestrategie 2050 war als Importstrategie konzipiert, und davon wollen wir wegkommen. Wir werden zwar nie autark sein. Aber bei einer Mangellage müssen wir imstande sein, genügend Strom für unsere Bevölkerung und unsere Wirtschaft zu produzieren. Das Stromgesetz schafft die Grundlage dafür.


Sie könnten diese Korrektur beschleunigen, indem Sie mit einem Gegenvorschlag zur Initiative «Blackout stoppen» das Bauverbot für neue Kernkraftwerke aufheben und den Atomausstieg rückgängig machen.

Der Bundesrat wird den Initianten in der zweiten Jahreshälfte antworten. Ich will dieser Diskussion nicht vorgreifen. Wird das neue Stromgesetz angenommen, werden wir bis spätestens 2040 rund sechs Terawattstunden (TWh) Winterstrom dazubauen können, das sind immerhin 10 Prozent unserer heutigen Stromproduktion. Damit gewinnen wir auch Zeit, um weitere Technologien zu evaluieren.


Der ETH-Professor Andreas Züttel rechnet in einer aktuellen Studie vor, dass es neben Windrädern und Photovoltaik weitere sechs neue, grosse Kraftwerke brauchen würde, wenn die Schweiz bis 2050 CO2-neutral sein will. Einverstanden?

Professor Züttel will vor allem aufzeigen, dass wir sehr, sehr viel mehr Strom brauchen werden. Ich teile diese Botschaft - unabhängig von den spezifischen Berechnungsmodellen. Seit Jahren sprechen wir über den Ausstieg aus der Kernkraft und den fossilen Energien. Gemacht haben wir fast nichts. Wir müssen jetzt schleunigst mit dem Zubau der Stromproduktion weiter vorankommen. Fehlt die Bereitschaft, diesen Weg zu gehen, etwa indem die Winterproduktion mit neuen Wasserkraftwerken in der Trift oder beim Gornerli erhöht wird, dann müssen wir schon sehr bald nach Alternativen suchen.


Die beiden Projekte, die Sie ansprechen, werden von Natur- und Landschaftsschützern bekämpft. Taugt das Stromgesetz überhaupt noch als letzte Chance für einen Kompromiss in der Energiepolitik?

Ich würde das nicht überdramatisieren. Politik ist nie alternativlos, vor allem in der Schweiz nicht. Gleichzeitig ist klar, dass der politische Konsens rasch endet, wenn die im Gesetz bestimmten Projekte weiterhin mit Einsprachen blockiert werden. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Es würde wohl mindestens 15 Jahre dauern, bis die Baubewilligung für ein neues Kernkraftwerk vorliegen würde. Dazu dürften zwei Volksabstimmungen nötig sein.


Sie selbst mussten bei der Entstehung des Gesetzes viele Kompromisse machen, um die Linke und die Umweltverbände mit an Bord zu haben. Jetzt kämpft ausgerechnet Ihre eigene Partei gegen die Vorlage. Sind Sie frustriert?

Ich war positiv überrascht, als sich zwei Drittel der Fraktionsmitglieder im Parlament für die Vorlage aussprachen. Und natürlich war ich auch enttäuscht, als die Basis an der Delegiertenversammlung die Meinung geändert hat. Die Partei ist in dieser Frage einfach gespalten, und ich kann das ein Stück weit nachvollziehen. Viele empfinden das Gesetz als Fortsetzung der Energiestrategie, die man unter meiner Leitung damals noch vehement bekämpft hatte.


Wie schädlich ist es für die Partei, wenn namhafte Exponenten wie Magdalena Martullo-Blocher und Christian Imark öffentlich aufeinander losgehen?

Jetzt muss ich aufpassen, was ich sage. Mit Frau Martullo-Blocher bin ich am Freitag noch in der «Arena». Im Ernst: Auch bei der SVP kommt es vor, dass man nicht gleicher Meinung ist. Wenn das nicht gleich bei jedem Thema der Fall ist und vor allem nicht bei den Kernthemen wie der Zuwanderung oder der Neutralität, ist das nicht weiter tragisch.


Haben Sie keine Angst, von Ihrer Partei bald nur noch als «halber Bundesrat» bezeichnet zu werden?

Ist Elisabeth Baume-Schneider eine halbe Bundesrätin, weil sie gegen die Prämieninitiative ihrer eigenen Partei antreten muss? Solche Konstellationen gehören zum Los des Amts, davor habe ich keine Angst. Meine Fraktionskollegen wussten genau, wen sie damals bei der Wahl in den Bundesrat portierten.

 

Eine Wahl, die Ihnen auch dank Ihrer Rolle beim Solarexpress geglückt ist. Sie kamen der Mitte, der FDP und auch der Linken entgegen. Sind Sie mit allen quitt, wenn Sie die Abstimmung gewinnen?Ich bin niemandem etwas schuldig. Darum geht es auch nicht. Nach Amtsantritt musste ich schon Verordnungen vorbereiten, wie unser Land im Fall einer eintretenden Strommangellage mit den Reservekraftwerken umgehen soll. Ich muss gestehen: Diese Verantwortung für die Stromversorgung des Landes zu tragen, wiegt schwer. Ich habe mir deshalb vorgenommen, jede erdenkliche Möglichkeit zu nutzen, um mehr Strom zu produzieren.

 

Muss dazu auch das Beschwerderecht der Umweltverbände eingeschränkt werden?

Nein. Wir haben bereits einen Erlass vorbereitet, der die Verfahren für den Bau von Kraftwerken beschleunigt. Statt zehn oder mehr Jahre sollen die Verfahren dann nur noch drei oder vier Jahre dauern.


Allein die Straffung der Verfahren garantiert nicht, dass die Gerichte der Energienutzung gegenüber dem Naturschutz den Vorzug geben.

Das stimmt. Aber mit dem Stromgesetz wird neu 16 Wasserkraftwerken sowie den Solar- und Windanlagen in geeigneten Gebieten ein grundsätzlicher Vorrang vor anderen nationalen Interessen zugestanden. Ein Gericht müsste künftig sehr grosse Umweltbedenken bei einem Projekt haben, damit es verhindert werden kann.

 

Nicht zuletzt Ihre eigene Partei behauptet, dass mit dem Stromgesetz die Mitbestimmung der Bevölkerung eingeschränkt werde. Wollen Sie die direkte Demokratie aushöhlen?

Keinesfalls. Die Mitspracherechte der Gemeinden und Kantone werden nicht beschnitten. Es gibt eine Ausnahme bei den 16 geplanten Wasserkraftwerken. Dort gibt es keine Nutzungsplanung mehr. Das ist aber eine Kleinigkeit. Bei 12 der 16 Projekte handelt es sich um bestehende Werke, deren Ausbau in der Region in der Regel ohnehin unbestritten ist. Bei allen Projekten kann zudem im Konzessions- und Bewilligungsverfahren Einsprache gemacht werden.

 

Der mit dem Stromgesetz forcierte Ausbau der erneuerbaren Energien erfordert Milliardeninvestitionen in den Ausbau des Netzes. Diese Mehrkosten werden am Schluss die Konsumenten berappen müssen.

Das Netz muss so oder so stark ausgebaut werden. Grund dafür ist aber weniger die überschaubare Zahl an Windkraftanlagen und Solarparks in den Bergen, sondern vielmehr der Boom der Solaranlagen auf den Gebäuden. Und dieser wird weitergehen, selbst wenn das Stromgesetz abgelehnt werden sollte. Darum habe ich mich gegen eine Solarpflicht für Einfamilienhäuser ausgesprochen. Das Wichtigste ist aber: Das Stromgesetz verkleinert das Risiko einer Stromknappheit, die massive und unkontrollierte Preisausschläge zur Folge hätte.

 

Sie selber warnten noch als Parlamentarier davor, dass die Energiewende 3200 Franken pro Haushalt kosten werde. Stimmten Ihre Berechnungen nicht?

Es ging mir damals vor allem um die Lenkungsabgaben auf Strom und Brennstoffen, die mit der zweiten Etappe der Energiestrategie eingeführt werden sollten. Das Parlament sprach sich dann aber glücklicherweise dagegen aus. Heute sehen die Gesetze keine solchen Abgaben vor, sondern einen bezahlbaren Preis für den Strom. Darum sind die Horrorszenarien von damals nicht eingetreten.

 

Horrorszenarien verbreitet auch Ihre Partei: Magdalena Martullo-Blocher spricht von 9000 Windrädern, die mit dem Stromgesetz gebaut werden müssten.

Auf diese Zahl kommt man, wenn der gesamte zusätzliche Stromausbau mit Windrädern produziert werden müsste. Das wird niemals eintreten. Wir gehen davon aus, dass es je zwei zusätzliche TWh aus Wasserkraft und alpinen Solaranlagen sowie ein bis zwei TWh aus Windkraft brauchen wird, um die Winterversorgung zu sichern. Wir schätzen grob, dass 2035 etwa 150 bis 200 Windräder in Betrieb sind.

 

Der Solarexpress kommt nicht richtig in Fahrt - ist es überhaupt noch realistisch, dass das von Ihnen genannte Ausbauziel erreicht wird?

Ich würde die alpinen Solaranlagen noch nicht abschreiben. Sie brauchen einfach mehr Zeit.

 

Ist alpiner Solarstrom nicht einfach zu teuer?

Nein. Wir wollen ja nicht unbeschränkt Solarparks in den Bergen bauen. Und wenn man den Preis für diese Anlage gegengerechnet mit den Kosten einer Mangellage, dann sieht die Rechnung anders aus. Ebenso, wenn man sieht, wie viel das Reservekraftwerk in Birr gekostet hat - und wie sehr sein Betrieb das Klima belasten würde.

 

Apropos Klima: Haben Sie das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu den Klimaseniorinnen mittlerweile verdaut?

Ich hatte deswegen nicht gerade schlaflose Nächte. Die Schweiz ist im Klimaschutz gut unterwegs. Die Richter haben aber das neue CO2-Gesetz, das im Frühling verabschiedet wurde, ebenso wenig berücksichtigt wie das Stromgesetz - obwohl damit die Emissionen deutlich reduziert werden.

 

Werden Sie trotzdem Anpassungen an der Klimapolitik vornehmen?

Wir prüfen derzeit, ob es Handlungsbedarf gibt. Erste Analysen zeigen jedoch, dass es kaum Korrekturen braucht. Wenn das Stromgesetz vom Volk angenommen wird, treten innerhalb von nur einem Jahr drei Gesetze in Kraft, die die Schweiz beim Klima entscheidend voranbringen. Damit können wir uns international zeigen.

 

Im Bundesrat beurteilt man den Richterspruch offenbar unterschiedlich. So machte Beat Jans mehrfach klar, dass er die Aufregung seiner Kollegen nicht verstehe.

Ich habe mich nicht aufgeregt - sondern einfach klargemacht, was ich vom Urteil halte. Letztlich sollen unsere Fachleute beurteilen, ob wir eine Lücke schliessen müssen. Gleichzeitig müssen wir im Bundesrat die Frage diskutieren, wie das miteinander zu vereinbaren ist: eine Bevölkerung, die direktdemokratisch entscheidet, und ein internationales Gericht. Bisher ist das nicht geschehen.

https://www.uvek.admin.ch/content/uvek/it/home/datec/media/interviste-e-prese-di-posizione/NZZ-20240517.html