Energieversorgung, Naturgefahren: «Wir müssen alle Technologien nutzen»

Bundesrat Albert Rösti spricht im NZZ-Interview über das Stocken beim Ausbau der erneuerbaren Energien und ob zum Vermeiden einer Mangellage neue Kernkraftwerke nötig sind. Weitere Themen sind das Stromabkommen mit der EU und der Umgang mit Naturgefahren.

Neue Zürcher Zeitung, 18.06.2025

Interview von Matthias Venetz und Fabian Schäfer


Herr Rösti, vergangene Woche hat der Gemeindepräsident von Blatten ein konkretes Szenario für den Wiederaufbau seines Dorfes vorgestellt. Sind Sie ebenso optimistisch wie er?

Ich habe mich sehr gefreut, dass er der Bevölkerung so schnell eine Perspektive gibt. Der Bund wird alles unternehmen, um diese Bemühungen zu unterstützen. Ich habe mein Departement angewiesen, den Prozess zu begleiten, damit wir allfällige Stolpersteine früh entdecken.

Stolpersteine? Was heisst das konkret?

Wir können nicht warten, bis fixe Pläne da sind und plötzlich Fragen aufkommen, die den Wiederaufbau verzögern. Es geht um Fragen der Zonenplanung oder der Gefahrenkarten: Wo kann ohne Risiken gebaut werden? Auch die Umweltauflagen müssen wir berücksichtigen. Gesetze lassen in der Regel einen gewissen Spielraum, den wir maximal nutzen wollen. Das habe ich auch intern bereits klar so mitgeteilt. Das ist auch meinen Ämtern bewusst. Wo das nicht möglich ist, müssen wir Differenzen rasch ausräumen. Bei solchen Fragen will ich das mit meinen Ämtern diskutieren, um keine Zeit zu verlieren.

Es gibt Stimmen, die nach Blatten grundsätzlich über die Zukunft von gefährdeten Siedlungen im alpinen Raum sprechen wollen. Wie stehen Sie dazu?

Es ist nicht die Aufgabe einer Behörde in Bern zu entscheiden, ob die Menschen in Blatten ihr Dorf wieder aufbauen können. Im Gegenteil: Unsere Aufgabe ist, den Leuten die Möglichkeit dazu zu geben. Entscheiden können diese Frage aber nur sie selbst.

Kosten und Nutzen spielen für Sie als Bundesrat keine Rolle?

Natürlich spielen die Kosten eine Rolle, aber diese Fragen stellen sich im ganzen Land. In den Städten, in den grossen Talebenen und auch in den Alpen treffen wir Vorkehrungen für Ereignisse, wie sie nur alle 300 Jahre einmal vorkommen. So haben wir im letzten Jahr etwa in St. Gallen mit Österreich 2 Milliarden Franken für die Rheinverbauung gesprochen. Doch gegen Grossereignisse, die weniger als alle 300 Jahre vorkommen, wie in Blatten, können kaum genügend Schutzmassnahmen ergriffen werden. Fast jede Schweizer Stadt liegt an einem Fluss – auch dort können Jahrtausendereignisse geschehen. Einige liegen in Erdbebengebieten. Doch niemand käme auf die Idee, die Entvölkerung dieser Städte zu fordern.

Natürlich nicht, in den Städten gibt es am meisten Einwohner und Arbeitsplätze.

Auch die Dorfgemeinschaften in den Alpen sind wichtig. Ohne sie gäbe es bald keine Bergbauern und keine Landschaftspflege mehr, die Hänge würden noch schneller rutschen. Aber wir brauchen die Täler zum Beispiel für die Stromproduktion aus Wasserkraft, die über die Hälfte unserer Versorgung ausmacht. Das wird schwieriger und teurer, wenn dort keine Menschen mehr wohnen. Abgesehen davon: In Blatten haben 300 Menschen ihre Heimat verloren – und kurz darauf bringen einige wenige Leute diese Diskussion auf. Das ist wenig empathisch.

Der Walliser Ständerat Beat Rieder hat in der NZZ kürzlich gesagt, die Schweiz tue zu wenig für den Schutz vor Naturgefahren. Fühlten Sie sich angesprochen?

Die Schweiz hat bereits sehr viel getan. Allein der Bund hat in den vergangenen zwanzig Jahren 4,4 Milliarden Franken investiert. Richtig ist, dass wir beim Monitoring von Naturgefahren noch mehr machen können. Zum Beispiel mit einer optimalen Nutzung von Satellitendaten.

Vergangene Woche sagten Sie im Parlament, die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Bergsturzes wie in Blatten sei zwar nicht null, aber sehr gering. Können wir wirklich so tun, als wäre alles wie früher?

Wir haben eine Zunahme bei kleineren Ereignissen. Durch das Bevölkerungswachstum in der Schweiz steigt damit auch die Zahl der Betroffenen. Dass ein Bergsturz ein ganzes Dorf verschüttet, ist in dieser Form seit dem Bergsturz Goldau einzigartig.

Gehen Sie davon aus, dass mit dem Klimawandel die gefährlichen Naturereignisse zunehmen?

Davon ist leider auszugehen. Allein das Auftauen des Permafrostes führt dazu. Ich bin allerdings zurückhaltend, einzelne Ereignisse direkt auf den Klimawandel zurückzuführen. Im Fall Blatten ist eher davon auszugehen, dass eine Kumulation verschiedener Faktoren zur Katastrophe führte.

Sie sind Umweltminister: Wie soll die Schweiz mit den Gefahren des Klimawandels umgehen?

Wo Schutzbauten wenig nützen oder ihre Kosten unverhältnismässig hoch sind, müssen wir in das Monitoring investieren. Wir müssen auch die Gefahrenkarten überprüfen. Ich bin zudem überzeugt, dass wir dank dem soeben überarbeiteten Wasserbaugesetz mit den bestehenden Budgets für Schutzbauten und Massnahmen in der Raumplanung noch mehr erreichen werden als bisher.

Im Parlament wird ein Katastrophenfonds gefordert. Sie waren zuerst dagegen, sagten dann aber vergangene Woche, man müsse ohne Zeitdruck darüber diskutieren. Kritiker würden sagen, Sie bremsten wieder.

Ich wüsste nicht, wo ich schon einmal gebremst hätte. Meine Position ist klar: Wir haben in den vergangenen Jahren mehrfach bewiesen, dass wir die nötigen Instrumente für die Wiederinstandstellung nach einem Ereignis haben. Die Frage ist, ob wir alle heutigen Gesetze und Instrumente in einem Gesetz zusammenfassen wollen. Ein Fonds ergibt zudem nur Sinn, wenn wir zweckgebundene Mittel oder einen hohen einmaligen Betrag beschliessen. Beides ist politisch schwierig.

Ein wichtiger Teil der Klimapolitik ist die Energieproduktion. Der Ausbau der Erneuerbaren stockt, trotzdem sind Sie dagegen, das Beschwerderecht der Umweltverbände für ausgewählte Projekte auszusetzen. So verkommt der angebliche Beschleunigungserlass zum Bummelerlass.

Auch der Bundesrat will Massnahmen zur Beschleunigung, damit der Prozess schneller vorangeht. Wir dürfen aber nicht übertreiben. Wenn wir das Beschwerderecht komplett aussetzen, kommt es wohl zu einem Referendum. Damit wären alle anderen Massnahmen für die Beschleunigung der Bewilligungsverfahren ebenfalls gefährdet.

Warum fürchten Sie sich vor dem Referendum?

Der Widerstand würde von verschiedenen Seiten kommen. Im dümmsten Fall könnte die Vorlage schon in der Schlussabstimmung im Parlament scheitern, wenn die Vertreter der Umweltverbände ebenso dagegen sind wie die Gegner der Windkraft.

Es wäre doch Ihre Aufgabe, der Bevölkerung zu erklären, wieso diese Projekte so wichtig sind. Woher sollen die knapp 25 Terawattstunden denn kommen, wenn dereinst die AKW wegfallen?

Wir müssen behutsam vorgehen, auch wenn ich nicht bestreite, dass uns die Zeit davonläuft. Die Projekte, um die es heute geht, würden ja nur einen kleinen Teil der Lücke schliessen – dass aber bereits dieser erste Schritt auf so viel Widerstand stösst, macht es schwierig. Alles ist blockiert: die Wasserkraft und die alpinen Solaranlagen. Ich mache, was ich kann, aber mir fehlt manchmal der Glaube, dass wir das Ausbauziel bei den Erneuerbaren erreichen. Wo sollen diese Anlagen stehen, wenn die Leute überall dagegen sind? Deshalb will der Bundesrat das Technologieverbot aufheben.

Sie wollen das Problem mit neuen Atomkraftwerken lösen.

Primär will ich eine Mangellage verhindern. Irgendwann um 2050 herum müssen wir die Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt abstellen. Spätestens dann brauchen wir Ersatz. Im Sommer läuft es gut, da haben wir mit den Solaranlagen genügend Strom. Aber der Winter macht mir ernsthafte Sorgen. Um das Problem allein mit Erneuerbaren zu lösen, geht es leider nicht ohne grössere Eingriffe in die Landschaft. Angesichts des Widerstands, den wir bereits jetzt haben, ist das sehr schwierig. Deshalb müssen wir alle Technologien nutzen. Sonst stehen wir am Ende da wie Deutschland: Wir schalten die Kernkraftwerke ab und bauen Gaskraftwerke. Das wäre alles andere als klimafreundlich.

Will heissen: Die Umweltverbände provozieren den Bau neuer AKW?

Es sind vor allem einige kleinere Umweltverbände, die sich gegen wichtige der 16 heutigen Wasserkraftprojekte wehren. Aber es gibt noch andere Gegner, die den Ausbau der Erneuerbaren bekämpfen . . .

. . . genau, auch die SVP bekämpft den Ausbau.

Es gibt viele Gegner. Auch ich persönlich will nicht, dass wir die Tourismusgebiete mit Windturbinen übersäen.

Wäre der Bau neuer AKW überhaupt rechtzeitig möglich?

Ich stelle einfach fest, dass bis jetzt alle Standortgemeinden der heutigen Kernkraftwerke einen Neubau unterstützen – das gilt auch für Mühleberg, wo das Kraftwerk bereits abgestellt wurde. Das macht alles einfacher. Bei den Windprojekten ist der Widerstand der örtlichen Bevölkerung oft das grösste Hindernis.

Das bedeutet nicht, dass der Bau rasch genug möglich wäre.

Wenn die Schweiz neue Kernkraftwerke will, müssen wir natürlich auch über die Verfahren sprechen. Aber ich bin überzeugt, dass wir Lösungen für ein rasches Vorgehen finden würden.

Wie sieht es finanziell aus? Laut dem Bundesamt für Energie, das zu Ihrem eigenen Departement gehört, sind neue Kernkraftwerke weder rentabel noch wettbewerbsfähig.

Das Wichtigste ist, dass wir bald entscheiden, was wir wollen. Irgendwoher muss der Strom im Winter kommen. Bleiben die Erneuerbaren blockiert, haben wir drei Varianten: Importe, Gas oder Nuklear. Soll die Schweiz wirklich in den fossilen Energien bleiben oder abhängig werden vom Ausland? Kernkraft ist wohl die bessere Option.

In jedem Szenario ist die Schweiz weiterhin auf Importe angewiesen. Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang das Stromabkommen mit der EU, das der Bundesrat abschliessen will?

Es würde zur Versorgungssicherheit beitragen, wichtiger ist aber der Ausbau der Inlandproduktion. Ich kann aber sagen, dass wir ein gutes Abkommen verhandelt haben. Es gibt Vorteile, die Nachteile konnten wir abfedern. Mit dem Abkommen können wir unsere Importe völkerrechtlich absichern. Haushalte und kleine KMU können in der Grundversorgung bleiben. Die Entflechtung von Netz und Produktion betrifft nur etwa 15 grosse Elektrizitätswerke, die vielen kleinen Betriebe sind ausgenommen.

Was sind die Folgen, wenn das Abkommen scheitert?

Dann brauchen wir mehr Gas- und Ölkraftwerke als Reserve. Das führt zu Mehrkosten.

Ihre Parteikollegin, die Nationalrätin Magdalena Martullo, kritisiert das Stromabkommen heftig: Die Schweiz stelle damit die EU-Interessen über die eigenen, der Strommarkt werde völlig umgestaltet, es drohten mehr Regulierung und eine schlechte Versorgung. Hat sie recht?

Richtig ist, dass wir unseren Strommarkt in jenen der EU integrieren würden. Wir konnten zwar wichtige Ausnahmen verhandeln, aber in allen anderen Bereichen würde die dynamische Rechtsübernahme gelten. Das kann zu mehr Bürokratie führen. Was ich hingegen bestreite: Das Stromabkommen wird die Versorgungssicherheit nicht verschlechtern. Das Gegenteil trifft zu. Die EU will künftig 70 Prozent der Kapazitäten für den Binnenmarkt reservieren. Setzt sie das effektiv durch und beschränkt die Leitungskapazitäten zulasten der Schweiz, brauchen wir im Winter die zusätzlichen Reserven.

Gegner warnen davor, mit dem Stromabkommen verliere die Schweiz die Verfügungsgewalt über ihren Wasserstrom. Stimmt das?

Nein. Die Eigentumsverhältnisse bei der Wasserkraft sind nicht betroffen. Wir haben Ausnahmen für Fragen vom Heimfall beim Ablauf einer Konzession bis zu den Wasserzinsen. Die Kantone müssen auch keine Konzessionen ausschreiben.

Aber die Schweiz könnte nicht mehr autonom entscheiden, wie viele Reservekraftwerke sie für den Notfall bereitstellt.

Vorläufig bleiben wir autonom, aber sechs Jahre nach Inkrafttreten müssten wir die Berechnungsregeln der EU übernehmen. Das führt zu einer Restunsicherheit, aber sie ist klein, weil wir uns heute schon an den EU-Regeln orientieren und Schweizer Eigenheiten berücksichtigen dürfen. Und es glaubt ja niemand im Ernst, dass wir verfügbare Kraftwerke nicht einschalten würden, wenn wir tatsächlich eine Mangellage hätten. Wir müssen nicht päpstlicher sein als der Papst.

Sie scheinen vom Stromabkommen überzeugt zu sein. Aber die Schweiz bekommt es nur, wenn sie auch die anderen Verträge mit der EU akzeptiert, die Ihre Partei bekämpft. Würden Sie persönlich trotzdem empfehlen, das Stromabkommen gutzuheissen?

Ich bin Teil des Bundesrats, und er empfiehlt das ganze Paket zur Annahme.

https://www.uvek.admin.ch/content/uvek/it/home/datec/media/interviste-e-prese-di-posizione/NZZ-20250618.html