Bergsturz Blatten: «Eine Entvölkerung der Bergdörfer ist keine Option»

Bundesrat Albert Rösti spricht im Walliser Boten über bröckelnde Berge, politische Forderungen und die Idee, ganze Bergdörfer der Natur zu überlassen.

Walliser Bote, 04.06.2025

Interview von Herold Bieler


Herr Bundesrat, Sie kommen am Sonntag an die Heimattagung in St. Niklaus, haben also keine Angst vor bröckelnden Bergen und herunter- stürzenden Steinen?

Nein. Respekt vor den Naturgewalten – egal in welchen Bergen – habe ich aber schon. Doch gerade nach dem schlimmen Ereignis in Blatten ist es wichtig, vor Ort zu sein, Solidarität zu zeigen und gemeinsam nach vorne zu blicken.

Sie waren bereits am Mittwoch, wenige Stunden nach dem Gletscherabbruch, in Blatten. Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie vor Ort waren?

Das Ausmass der Zerstörung hat mich enorm bewegt. Gleichzeitig habe ich aber auch grosse Dankbarkeit empfunden: Einerseits konnte mit der rechtzeitigen und höchst professionell organisierten Evakuierung noch Schlimmeres verhindert werden. Mit der Ausnahme eines Menschenlebens, das leider zu beklagen ist, blieb es bei materiellen Schäden, die natürlich emotionale Folgen haben. Andererseits erleben wir vor Ort und in der ganzen Schweiz eine Solidarität und Hilfsbereitschaft, die mich tief beeindrucken. Wenn es nötig ist, stehen wir in unserem Land zusammen.

Sie sagten vor sechs Tagen: Blatten wird wieder aufgebaut. Sind Sie immer noch überzeugt?

Blatten und die Umgebung wie auch das betroffene Ried müssen eine Zukunft im Lötschental haben. Ich habe aber auch gesagt, dass der Wiederaufbau eine Herausforderung wird. Wir können und wollen nicht über die Menschen verfügen, aber wir können sie unterstützen; sei es mit Soforthilfe, aber auch über den Tag hinaus.

Was bedeutet es für unser Selbstverständnis, wenn unsere Berge bröckeln und ganze Dörfer begraben werden?

Unsere Berge sind Teil unserer Identität. Wenn sie bedroht sind, betrifft das uns alle. Der Umgang mit Naturgefahren fordert uns heraus. Die Diskussion, wie wir unsere Lebensräume schützen und anpassen können, führen wir seit Langem.

Die NZZ forderte nur vier Tage nach dem Ereignis, dass man gewisse Bergregionen und Bergdörfer der Natur überlässt. Blatten soll man also nicht wiederaufbauen. Was halten Sie von der Idee?

Es ist eine rasch formulierte, sehr allgemeine und radikale Forderung. Expertenwissen hilft hier mehr als Schnellschüsse. Dazu gibt es den gesellschaftlichen Aspekt: Die Menschen haben über Generationen diese Regionen aufgebaut und geprägt. Es ist unsere Aufgabe, gemeinsam abzuwägen, wie ein sicherer Wiederaufbau möglich ist. Wenn die Bergtäler nicht mehr gepflegt werden, nehmen die Naturschäden zu und die Sicherheit ab. Eine Entvölkerung ist keine Option.

Die politischen Diskussionen in den nächsten Monaten könnten intensiv werden. Mitte-Nationalrat Philipp Matthias Bregy sagt, der Gesamtbundesrat müsse schnell grössere Millionenbeträge für Soforthilfe und Wiederaufbau bereitstellen. Der Wiederaufbau sei nicht durch «Amtsbürokratie und lange Verfahren» zu verzögern.

Ich teile die Ansicht, dass wir rasch und unbürokratisch helfen müssen. Die Menschen haben ihr Hab und Gut verloren. Sie brauchen jetzt Klarheit und Unterstützung. Natürlich müssen die Mittel gezielt und verantwortungsvoll eingesetzt werden.

Auch SVP-Nationalrat Michael Graber fordert, dass der Bund nicht abwartet, sondern sofort handelt – mit «allen ordentlichen und ausserordentlichen Mitteln». Dazu gehören für ihn Manpower, Maschinen und Geld. Auch damit sind Sie wohl einverstanden?

Ja, in einer Krisensituation müssen alle verfügbaren Mittel mobilisiert werden. Hier spielen die Armee und der Zivilschutz eine wichtige Rolle. Das Wichtigste ist, dass wir pragmatisch und lösungsorientiert handeln und Perspektiven für die Zukunft schaffen.

Als politische Forderung bringt Graber auch eine brisante Idee ins Spiel: «Die Schweiz soll die Hälfte der Entwicklungshilfe einfrieren – bis der letzte Grundeigentümer in Blatten vollständig entschädigt ist.»

Ich verstehe die Emotionen hinter diesem Vorschlag, aber wir dürfen nicht das eine gegen das andere ausspielen. Die Schweiz steht zu ihrer internationalen Verantwortung. Gleichzeitig werden wir alles tun, um den Betroffenen in Blatten und anderen betroffenen Regionen zu helfen.

Grünen-Nationalrat Christophe Clivaz will über die akute Krisenhilfe hinausdenken. Kurzfristig könnten die Armee und der Zivilschutz mobilisiert werden. Es brauche daher mehr Mittel, sowohl zur Reduktion der Treibhausgasemissionen als auch zur Anpassung an die zunehmenden Extremereignisse. War es die schlechte Geologie des Kleinen Nesthorns, der Permafrost oder der Klimawandel, was zur Katastrophe führte?

Wir wissen schlicht noch nicht, was die Ursache für die Verschüttung Blattens war. Möglicherweise spielten mehrere Faktoren eine Rolle. Die Experten sind daran, darüber Klarheit zu schaffen. Dass wir die Menschen vor Naturgefahren schützen müssen, ist für mich unbestritten. Die Sicherheit der Bevölkerung hat oberste Priorität. Nötig sind dafür Bauten, die vor Hochwasser, Lawinen und Steinschlag schützen – aber auch Frühwarnsysteme, die Leben retten können, wie wir in Blatten gesehen haben.

Sie sagten wenige Tage vor dem Ereignis, die Gemeinden sollten sich zuerst selbst helfen, dann vom Kanton unterstützt werden und schliesslich allenfalls vom Bund. Selbsthilfe vor Ort solle an erster Stelle bleiben. Bleiben Sie bei dieser Meinung?

Ja, ich stehe weiterhin zum Grundsatz der Subsidiarität. Die Solidarität vor Ort ist die Basis. Aber in ausserordentlichen Situationen wie jetzt muss der Bund rasch und gezielt helfen – das schliesst sich nicht aus, sondern ergänzt sich.

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