Am 24. November stimmt die Schweiz über den Ausbau von sechs Autobahnabschnitten ab. Warum er dafür kämpft, erzählt Bundesrat Albert Rösti dem Migros-Magazin.
Migros-Magazin, 04.11.2024
Interview von Christian Dorer
Am 24. November stimmt die Schweiz über den Ausbau von sechs Autobahnabschnitten ab. Warum er dafür kämpft, erzählt Bundesrat Albert Rösti dem Migros-Magazin.
Migros-Magazin, 04.11.2024
Interview von Christian Dorer
Herr Bundesrat, was haben Sie bei der Besichtigung des Gubristtunnels gelernt?
Das Modell ist genial: Man baut zuerst eine neue Röhre und kann danach nacheinander die beiden 40-jährigen Röhren sanieren. Ohne den Neubau wäre es in Zürich zum Verkehrskollaps gekommen. Und wenn dann alles fertig ist, stehen mehr Spuren zur Verfügung, die man wegen des zunehmenden Verkehrs auch dringend braucht.
Am 24. November stimmen wir über sechs Ausbauprojekte ab. Gegner sagen: Mehr Strassen sorgen für mehr Verkehr. Was antworten Sie?
Dass sie irren! Wir bauen keine Strassen auf Vorrat, sondern nur das, was es bereits heute dringend braucht. In der Schweiz leben neun Millionen Menschen – ein Drittel mehr als in den 1960er-Jahren, als die heutigen Autobahnen konzipiert wurden. Jährlich kommt es zu mehr als 48 000 Stunden Stau, Tendenz steigend. Das führt zu viel Ausweichverkehr durch Dörfer, und das ist ein sehr grosses Pro-blem. Diesen Ausweichverkehr wollen wir zurück auf die Autobahn bringen. Dazu eine interessante Zahl: Die Autobahnen machen nur drei Prozent des Strassennetzes aus, sie bewältigen aber 40 Prozent des Auto- und sogar 70 Prozent des Lastwagenverkehrs!
Wie viele Leute werden von der Bahn auf das Auto umsteigen, wenn sie freie Fahrt haben?
Das wird nicht passieren. Denn umgekehrt passiert es ja auch nicht: Trotz Stau steigen die Autofahrer nicht auf die Bahn um. Viele Leute können ihr Verkehrsmittel nicht frei wählen.
Warum soll jemand, der nie im Stau steht, den Autobahnausbau unterstützen?
Weil damit viel Verkehr aus den Quartieren und Dörfern verschwindet. Das bedeutet mehr Platz und Sicherheit für Velos, Fussgänger, ÖV-Busse, aber auch weniger Lärm und weniger Unfälle. Ich will es deutlich sagen: Wir haben heute ein Chaos und eine unerträgliche Stausituation. Wenn ich als Individuum im Stau stehe, komme ich halt zu spät. Wenn die Migros-Lastwagen, die in der ganzen Schweiz die Waren verteilen, jeden Morgen im Stau stehen, dann verursacht das enorme Kosten. Und wenn Tiertransporte bei brütender Hitze im Stau stehen, ist das inakzeptabel. Das geht alle etwas an.
Die Schweiz muss bis 2050 klimaneutral sein. Wie will der Bundesrat das Klima retten, wenn er gleichzeitig neue Strassen baut?
Das Klima retten wir eher mit den Ausbauten als ohne, weil wir Stau verhindern und den CO₂-Ausstoss verringern. Der Strassenverkehr wird in absehbarer Zeit mehrheitlich dekarbonisiert erfolgen, dann ist die CO₂-Frage ohnehin gelöst. Nicht zu vergessen: Wir investieren deutlich mehr in den Bahn- als in den Strassenausbau, auch wenn der Individualverkehr 70 und der öffentliche Verkehr 30 Prozent ausmachen.
Wäre ein Nein eine Abfuhr an alle künftigen Strassenausbauten?
Jetzt geht es um sechs Projekte in Regionen, die am stärksten von Stau betroffen sind. Ein Nein würde künftige Ausbauten zweifellos erschweren.
Kann sich die Schweiz in Zeiten knapper Finanzen Strassenausbauten überhaupt leisten?
Mit den Motorfahrzeugsteuern, der Autobahnvignette und jedem Liter Benzin zahlt der Autofahrer in den Nationalstrassen- und Agglomerationsfonds ein. Das Geld darf nur für Unterhalt und Neubauten verwendet werden. Die Bundeskasse wird nicht belastet.
Die Bevölkerung wächst seit Jahrzehnten. Wieso hat es die Schweiz verpasst, die Infrastruktur anzupassen?
Ich finde nicht, dass die Schweiz das verpasst hat. Die Bevölkerung ist jedoch viel schneller gewachsen als erwartet. Bei der Abstimmung über die Energiewende 2017 ging man davon aus, dass die Schweiz im Jahr 2050 neun Millionen Einwohner haben werde. Jetzt ist 2024, und es ist bereits so weit.
Trotzdem: In jedem anderen Land wäre eine Hauptverkehrsader wie die A1 zwischen Bern und Zürich längst durchgehend sechsspurig.
Strassenprojekte haben es nicht einfach. In den vergangenen Jahrzehnten wurde der Widerstand gegen das Auto kultiviert. Es wurde zum Sündenbock für Klimaveränderung, Abgas, Feinstaub und so weiter. Gegen die aktuellen Bahnprojekte gibt es kein Referendum, gegen die Strassenprojekte hingegen schon.
Eines Tages wird es selbst fahrende Autos geben. Das erhöht die Kapazität der Strassen um etwa ein Drittel. Sind die heutigen Investitionen langfristig für die Katz?
Absolut nicht! Wir bauen, um die Probleme von heute zu beseitigen. Bis zum total automatisierten Fahren wird es noch Jahre dauern. Bis 2050 werden rund zehn Millionen Menschen in der Schweiz leben. Mir macht mehr Sorgen, dass wir nicht nachkommen mit Bauen, als dass wir zu viel bauen.
Ihre Frau arbeitet auch im Verkehr: Sie ist Flight Attendant bei der Swiss. Wie oft begleiten Sie sie?
Als Student flog ich oft mit, das war wunderbar! Jetzt fehlt mir leider oft die Zeit. Vor Kurzem habe ich sie aber wieder mal begleitet, auf einem Flug nach Johannesburg.