Sichere Stromversorgung: «Vor der Abstimmung habe ich viel Respekt»

Die Umsetzung der Energiewende harzt, aber die Schweiz braucht dringend mehr Winterstrom. Bundesrat Albert Rösti wehrte sich seinerzeit als Nationalrat gegen die neue Energiestrategie. Nun betont er: «Mein Auftrag ist zunächst, dass die Schweiz in den nächsten zehn Jahren über die Runden kommt. Das geht nur mit erneuerbaren Energien.»

Finanz und Wirtschaft, 24.02.2024
Interview: Arno Schmocker


Herr Bundesrat, blickt man auf das seit Wochen frühlingshafte Wetter, dann ist eine Strommangellage diesen Winter nicht mehr zu befürchten?

Davon gehe ich aus, auch aufgrund der Tatsache, dass die Speicherseen gefüllt sind und in Frankreich mehr Kernkraftwerke laufen als vor einem Jahr. Diesen Winter haben wir wohl überstanden, es sei denn, es gäbe etwas Ausserordentliches wie eine Handelsblockade.

Die Schweiz ist seit einigen Jahren im Winter mit der realen Gefahr einer plötzlichen Strommangellage konfrontiert. Als Reserve wurden fossile Kraftwerke bereitgestellt, mit Kosten im Umfang von 1 Mrd. Fr. Die Verträge laufen noch bis 2026. Sind danach weitere Kosten in Milliardenhöhe zu erwarten?

Die Investitionen sind hoch, aber im Vergleich zu den Kosten einer real eintretenden Mangellage von mehreren Tagen ein Klacks. Es müssen jederzeit 400 Megawatt Leistung bereit sein, um Ausfälle zu überbrücken. Diese sind auch in den nächsten Jahren möglich, weil der Strombedarf steigt. Der Zubau nimmt auch zu, aber vor allem im Sommer mit Solarenergie, im Winter ist er zu langsam.

Wie geht es konkret weiter mit der Reserve?

Wir haben neue Reservekraftwerke bereits öffentlich ausgeschrieben. Dieses Mal müssen sie die Luftreinhalte- und Lärmverordnungen erfüllen und allenfalls später auch mit erneuerbarem Gas betrieben werden können. Vorher ging es darum, per Verordnung rasch zu handeln. Nun muss das Parlament einem entsprechenden neuen Gesetz zustimmen.

Ebenfalls 2026 steht der Entscheid bevor, wie es mit dem umstrittenen staatlichen Rettungsschirm für systemrelevante Stromkonzerne weitergeht. Wird er dann zugemacht?

Der Kreditrahmen für Axpo ist im Dezember aufgelöst worden. Nun zahlen die grossen drei Stromunternehmen noch eine Bereitstellungsprämie für insgesamt 10 Mrd. Fr., auf den sie bis Ende 2026 zurückgreifen können. Danach, ab 2027, sollen drei Vorlagen den Rettungsschirm ablösen.

Welchen Inhalts?

Es geht um Transparenzvorschriften als Vorwarnstufe. Die Stromkonzerne müssen der Überwachungsbehörde Elcom genauere Angaben über die Handelsflüsse liefern. Zudem gibt es Eigenkapitalvorschriften, ähnlich wie für Grossbanken. Als Drittes kommt eine Änderung, die es   ermöglichen soll, dass ein Stromkonzern im schlimmsten Fall Konkurs gehen kann, die Stromproduktion aber trotzdem weiterläuft.

Sie machen sich derzeit aber gewiss mehr Gedanken über die Abstimmung im Juni über den Mantelerlass, das Bundesgesetz für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien. Die Opposition von Naturschutzorganisationen und neuerdings Ihrer Partei, der SVP, nimmt zu. Könnte eine unheilige Allianz die Vorlage zu Fall bringen?

Vor dieser Abstimmung habe ich grossen Respekt. Einige Personen können individuelle Gründe haben, sich gegen zusätzliche Produktionsanlagen zu wehren. Was meine Partei betrifft, muss man sehen, dass sie ursprünglich gegen die Energiestrategie 2050 kämpfte. Und jetzt im Parlament haben zwei Drittel der SVP der Vorlage zur sicheren Stromversorgung zugestimmt. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass wir die Bevölkerung überzeugen können, dass wir aufgrund des Bevölkerungswachstums und der Dekarbonisierungsstrategie mehr Strom benötigen. Das neue Gesetz fasst die Möglichkeiten zusammen, die die Schweiz derzeit hat, um in den nächsten Jahren mehr Strom zu produzieren. Solaranlagen auf Gebäuden bieten das grösste und am schnellsten realisierbare Potenzial. Die Vorlage erleichtert insbesondere den raschen Bau national bedeutender Produktionsanlagen zur Nutzung von Wasserkraft, Solar- und Windenergie, das heisst für die Produktion von Winterstrom.

Bei einer Ablehnung stünde das Land mit seiner Energiestrategie vor einem Scherbenhaufen.

Politik ist nie alternativlos. Aber es würde deutlich länger dauern, bis wir den nötigen Strom haben. Fehler hat die Schweiz schon begangen, etwa mit der Stilllegung des AKW Mühleberg, das 3 Terrawattstunden Bandenergie produzierte.

Die Resultate der Energiewende in Deutschland mit dem Ausstieg aus der Kernenergie sind bedenklich. Der CO2-Ausstoss war 2023 so hoch wie nie, die Strompreise zählen zu den höchsten in Europa – warum sollte die Schweiz mit dem Mantelerlass einen ähnlichen Pfad beschreiten?

Die Schweiz hat den grossen Vorteil der Wasserkraft. Mit dem Mantelerlass produzieren wir noch mehr. Der bedeutendste Unterschied zu Deutschland ist jedoch, dass unser Land noch rund 36% der Stromproduktion aus Kernkraftwerken stammt. Mittlerweile ist im Bundesrat unbestritten, dass die vier Atomkraftwerke länger als vorgesehen am Netz bleiben. Je langsamer der Zubau vor sich geht, desto wichtiger ist eine längere Laufzeit der AKW. Mein Auftrag ist zunächst jedoch, dass wir in den nächsten zehn Jahren über die Runden kommen. Dazu braucht es die Erneuerbaren.

Strommangellagen drohen namentlich im Winter. Daher will der Bundesrat den Ausbau mit dem Solar- und Windexpress als Ergänzung zum Mantelerlass beschleunigen. Grossprojekte sind aber reduziert oder in lokalen Abstimmungen abgelehnt worden. Sind Sie sicher, dass bis Ende 2025 auch nur eine grosse Solaranlage in den Alpen in Betrieb ist?

Einige Projekte werden kommen. Dass sie dann Ende 2025 am Netz sein werden, kann ich nicht garantieren. Wir wollen den Planungsdruck aber aufrechterhalten, am Schluss zählt jedes Kilowatt. Die Schweiz braucht wie gesagt 400 Megawatt zusätzliche Winterleistung, um auf der sicheren Seite zu sein. Bei sechszehn vom Parlament im Gesetz festgeschriebenen Wasserkraftprojekten hat in der Güterabwägung die Produktion den Vorrang. Leider werden auch einige von ihnen von Einsprachen verzögert, das ärgert mich.

Und was passiert mit den Solarplänen in den Alpen ab 2026?

Der Expresserlass selbst wird nicht verlängert. Aber im revidierten Energiegesetz werden Fördermassnahmen weiterhin vorgesehen, in unterschiedlicher Höhe. Es räumt dem Bundesrat im Rahmen einer Verordnung die Möglichkeit ein, die dannzumal wahrscheinlich weit fortgeschrittenen Projekte in einem Normalprozess weiterführen.

Allenthalben Verzögerungen – wird der bis 2035 angepeilte Zusatzstrom für den Winter von 5 Terrawatt tatsächlich realisiert? Die ETH Zürich ist in einer von Economiesuisse in Auftrag gegebenen Studie zum Schluss gekommen, die Ausbauziele 2035 würden deutlich verfehlt.

Ich habe nie gesagt, es sei problemlos möglich, die Ziele zu erreichen. Für die zusätzliche 1 Terrawattstunde aus Windkraft sieht es gut aus, die Projekte sind alle recht weit fortgeschritten. Die 2 Terrawattstunden aus alpinen Solaranlagen zu realisieren, dauert zweifellos länger, da viele Projekte abgelehnt worden sind. Die Wasserkraftprojekte dauern noch länger, allein wegen der Bauzeit. Ich habe stets von zehn Jahren gesprochen, und das ist ein eher optimistisches Szenario.

Die Basis des Mantelerlasses sind die Schönwetter-Szenarien der Energiestrategie 2050, mit drei grundlegenden Fehlannahmen: dass die Schweiz benötigten Zusatzstrom jederzeit importieren kann, dass der Verbrauch kaum zunimmt und dass die Stromjahresbilanz ausgeglichen sei. Basiert die Energiestrategie der Schweiz auf dem Prinzip Hoffnung, müsste sie nicht neu aufgegleist werden?

Die Energiestrategie 2050 war de facto eine Importstrategie. Unterdessen ist klar, dass die Schweiz mehr Strom selbst produzieren muss. Nach zwei Revisionen des Energiegesetzes sehen die Projektionen erheblich anders aus als in der ursprünglichen Energiestrategie. Die Strategie basiert zwar mangels Alternative auf denselben Technologien, aber nun ist gemäss Parlamentsbeschluss klar, dass es bis 2050 mindestens 45 Terrawatt mehr Strom braucht. Das sind drei Viertel der heutigen Produktion von 60 Terrawatt.

Ob es gelingt, diesen massiven Ausbau allein mit erneuerbarer Energie zu schaffen, ist mehr als fraglich. Wäre es nicht an der Zeit, die Energiestrategie neu aufzugleisen?

Seinerzeit habe ich mich massiv gewehrt gegen die Energiestrategie, weil ich die Berechnungen in Frage gestellt habe. Warum setze ich mich nun für den Mantelerlass ein? In der Ökonomie lernt man, dass man die zweitbeste Lösung verfolgen muss, wenn die beste nicht möglich ist. In der Politik habe ich gelernt, dass es Schritt um Schritt gehen muss. Zuerst sind die Projekte der Beschleunigungserlasse und des Mantelerlasses weiterzuentwickeln, das steht in den nächsten zehn Jahren im Vordergrund. Danach kommt der nächste Schritt.

Welcher?

Wir werden sehen, welche Technologien dann zur Verfügung stehen. Ich habe stets Technologieoffenheit betont, übrigens nicht nur in der Energie-, sondern auch zum Beispiel in der Verkehrspolitik. Wir können heute nicht genau wissen, welches 2035 die beste Technologie sein wird. Auch darum ist es sinnvoll dafür zu sorgen, dass die bestehenden Kernkraftwerke sicher bleiben und sie soweit erforderlich nachgerüstet werden. Ich gehe davon aus, dass Leibstadt und Gösgen bis in die 2040er Jahre noch am Netz sein könnten. Das gibt uns ein wenig Raum für andere Entwicklungen.

Sie haben sich als Bundesrat bislang gescheut, die Frage einer Aufhebung des Verbots von KKW offensiv anzugehen. Vergangene Woche wurde sie sog. Blackout-Initiative eingereicht, die genau darauf abzielt – ein Steilpass für einen griffigen Gegenvorschlag?

Es ist zu früh, diese Frage zu beantworten. Der Bundesrat wird wie üblich innerhalb eines Jahres eine Botschaft verabschieden, mit einem Gegenvorschlag hat er eineinhalb Jahre zur Verfügung, und dann kommen die parlamentarischen Prozesse. Der Bundesrat wird jede Option prüfen und diejenige vorschlagen, die er für die Schweizer Energiepolitik am sinnvollsten hält. Schauen wir die nächsten Schritte nach der Abstimmung über den Mantelerlass. Durch ein zu rasches Vorgehen ist die Gefahr gross, in eine Sackgasse zu geraten, wenn die Zeit nicht reif ist.

Müsste ausser Kernkraftwerken nicht auf die Planung von Gaskraftwerken für die mittel- und langfristige Sicherung der Stromversorgung aufgenommen werden?

Die Schweiz wird auch in Zukunft Gross-Kraftwerke benötigen. Gaskraft ist eine der Möglichkeiten. Schon die Energiestrategie 2050 sah in der Botschaft den Bau von vier Gaskraftwerken vor. Ich bin da eher zurückhaltend, erneuerbares Gas benötigen wir künftig für die Flugfahrt. Es könnte auch sein, dass Geothermie ein Thema wird.

In der Energiepolitik besteht ein Trilemma zwischen Versorgungssicherheit, Naturschutz und Wirtschaftlichkeit. Hat der Bundesrat neu ausrechnen lassen, wie viel der gigantische Umbau des Stromsystems einem Haushalt zu stehen kommt? Gewiss mehr als die 45 Fr. pro Jahr, die Bundesrätin Leuthard einst nannte.

Ja klar, das habe ich auch immer gesagt. Eine Schwierigkeit langfristiger Berechnungen sind darin enthaltene Reinvestitionen, die man sowieso vornehmen müsste. Eine moderne, sichere Stromversorgung ist nicht gratis zu haben.

Gegenwärtig hat der Ausbau der Stromproduktion Priorität. Der ebenso nötige Umbau des Gesamtsystems – Speichermöglichkeiten, Netzausbau und -regelung – hinkt hinterher. Das System wird instabiler.

Das Netz muss erneuert, um- und ausgebaut werden, das ist unbestritten. Aber man kann nicht alles gleichzeitig anpacken. Wir werden dem Bundesrat noch im Frühling eine Vorlage unterbreitet, die eine Vereinfachung der Verfahren vorsieht, damit die Erneuerung des bestehenden Netzes und der dezentrale Ausbau rascher vorankommen.

Aus wirtschaftsliberaler Sicht störend ist die massive staatliche Förderung der erneuerbaren Energien. 2018 bis 2021 wurden sie mit 3,5 Mrd. Fr. unterstützt. Die Eidgenössische Finanzkontrolle hat kritisiert, dass die Hälfte der Solaranlagen auch ohne Fördergelder erstellt worden wären. Werden da nicht Steuergelder aus dem Fenster geworfen?

Seit dem Volksentscheid 2017 zur Energiestrategie 2050 werden die erneuerbaren Energien generell bevorzugt. Die Frage der Mitnahmeeffekte überprüfen wir immer wieder kritisch. Immerhin sind mehrere Vorschläge zur Erhöhung des Unterstützungsbeitrags nicht durchgedrungen. Es soll nichts vergoldet werden.

Ein grosses Manko des Mantelerlasses respektive der neuen Energiestrategie ist die verpasste Liberalisierung des Strommarkts. Schaffte eine Öffnung nicht bessere Voraussetzungen für ein Stromabkommen mit der EU?

Vor zwei Jahren, als die Energiepreise explodierten, konnten die Schweizer Konsumenten froh sein, in einem nicht liberalisierten Markt Strom zu beziehen. Die europäischen Länder mussten Unsummen in den Energiemarkt buttern, damit die Preise für die Konsumenten bezahlbar blieben. In den Verhandlungen mit der EU ist es sicher die grösste Herausforderung, sich auf eine Teilmarktöffnung zu einigen, die in der Schweiz innenpolitisch akzeptiert wird.

Wie weit sind die Verhandlungen gediehen?

Die EU verlangt mindestens eine Teilmarktöffnung. Es müsse möglich sein, dass auch EU-Unternehmen in der Schweiz Strom verkaufen dürfen. Eine gewisse Grundversorgung mit gebundenen Kleinkunden wäre noch erlaubt, aber wie umfassend, muss verhandelt werden.

Ist die Energiestrategie der Schweiz ohne Abkommen mit der EU zum Scheitern verurteilt?

Wir werden auf einen gewissen Import weiterhin angewiesen sein, auch wenn die Produktionspläne erreicht werden. Ab Anfang 2026 müssen unsere Nachbarländer mindestens 70% der Übertragungskapazität für den grenzüberschreitenden Handel zwischen EU-Mitgliedstaaten reservieren. Ich gehe heute davon aus, dass die Schweiz zu diesem Kreis zählt, rein schon aufgrund der physikalischen Vernetzung mit 41 grenzüberschreitenden Leitungen. Solange die Verhandlungen laufen, haben wir eine Art Stillhalteabkommen, dass die Zusammenarbeit normal läuft.

Die Sicherheit der Versorgung mit Strom ist ebenso wichtig wie die Landesverteidigung. Es geht um ganz zentrale Landesinteressen. Sollten wir Versorgungssicherheit als Staatsaufgabe definieren, oder sollte man den freien Markt spielen lassen?

Beides. Die Schweiz ist gut gefahren, indem sie solche Fragen nie durch eine schwarz-weisse Optik betrachtet hat. Faktisch ist der Strommarkt in Staatshänden, Besitzer der Stromproduzenten sind Gemeinden und Kantone. Man lässt aber auch den Markt spielen im Verkehr mit dem Ausland, damit für Konkurrenz und eine höhere Effizienz gesorgt ist.

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