Bauen am Haus der Schweiz

Bern, 20.01.2011 - Ansprache von Doris Leuthard anlässlich der Infra-Tagung 2011. Luzern, KKL.

Was wäre ein Haus, ohne stabilen Untergrund, ohne Zu- und Ableitungen, ohne Zu- und Wegfahrtsmöglichkeiten?
Was wäre die Schweiz, ohne qualitativ hochstehende Infrastrukturanlagen?
Wohl kaum das Land der Baupioniere, der kühnen Viadukte und des längsten Eisenbahntunnels der Welt.
Wohl kaum die Nummer 1 der Welt in Sachen Wettbewerb !

Sehr geehrter Herr Präsident
Sehr geehrte Damen und Herren

Ich bin seit dem 1. November 2010 im Amt und es gibt sehr viel zu tun, es gibt viele Baustellen in diesem Departement. Deshalb freut es mich, heute bei Ihnen einige Grundsatzüberlegungen anstellen zu dürfen. Ich fühle mich bei Ihnen wohl. Und obwohl Sie häufig im Untergrund wühlen, bin ich froh, hier nicht vor einem subversiven Verein auftreten zu müssen, sondern bei Infrastrukturbauern, die gestalten und das Netzwerk für unser Land legen. Sie haben schon lange erkannt, dass eine leistungsfähige und effiziente Infrastruktur die Grundlage ist für das Wohl der Bürgerinnen und Bürger, für das reibungslose Funktionieren unserer Wirtschaft, für die Zukunft unseres Landes.
Gleichzeitig stehen Sie als Erbauer von Infrastrukturanlagen und wir im Departement aber auch vor gewaltigen Herausforderungen.
Wenn wir diese nicht rechtzeitig anpacken, gefährden wir das künftige Wirtschaftswachstum, den Wohlstand unserer Bevölkerung.
Das nächste Jahrzehnt dürfte daher zum Jahrzehnt der Infrastruktur-Entscheide und der Infrastruktur-Bauer werden.

Dabei werden wir in drei Bereichen gefordert sein:

  • Erstens, beim Unterhalt, bei der Beseitigung von Engpässen und beim gezielten Ausbau.
  • Zweitens, bei der technischen Ausgestaltung.
  • Drittens, bei der gesellschaftspolitischen Akzeptanz.

Zum Punkt Eins: Wir sind uns alle einig und alle Berichte aus dem Ausland kommen zum Schluss, dass unsere Infrastrukturnetze hervorragend und ein gutes Aushängeschild im Ausland sind. Heute funktioniert alles auf einem guten Niveau.
Ein kleiner Ärger vielleicht,

  • wenn der Zug verspätet ist oder weil es zu wenig Sitzplätze hat oder
  • wenn man kurzfristig keinen Zugriff auf das Handy-Netz hat.

Trotz einer grundsätzlich guten Ausgangssituation haben wir im Infrastrukturbereich Handlungsbedarf.
Der Stromverbrauch ist in den letzten 26 Jahren um 60% gestiegen - eine Trendwende ist nicht in Sicht.
Allein beim Personenverkehr rechnen wir bis 2030 mit einem Wachstum von 20% auf der Strasse und auf der Schiene mit 45%.
Diese Prognosen wurden in der Vergangenheit von der Realität immer überholt - das Wachstum dürfte daher grösser sein.
Diese Entwicklung fordert uns heraus - Baufachleute, Betreiber Politiker sowie Bürgerinnen und Bürger und Nutzer.

Diese Fragen nicht zu lösen und die nationale Infrastruktur zu vernachlässigen, das wäre ein fataler Fehler. Wir müssen uns unterhalten über die finanziellen Fragen, wenn wir diese Infrastrukturbauten unterhalten, die Engpässe beseitigen und dem Wachstum begegnen wollen. Wir haben im Bundesrat gestern die Weichen dazu gestellt und Sie kennen den Infrastrukturbericht, der die benötigten Summen für die nächsten 20 Jahre offenlegt. Wir haben über alle nationalen Infrastrukturnetze gerechnet bis 2030 einen Bedarf von rund 230 Milliarden. Durchschnittlich rechnen wir also etwa mit 10 Milliarden pro Jahr, um das Telekom-, das Energienetz und den Luftverkehr, die mehrheitlich über den Markt zu finanzieren sind, sowie Schiene und Strasse, die mehrheitlich über den Staat zu finanzieren sind.

Dabei ist der Verkehr keineswegs so eingestuft, dass wir hier ein grosszügiges Hors-d'oeuvre riche et varié präsentieren. Alle Wünsche können wir nicht erfüllen. Es geht einzig und allein um Unterhalt, die Schliessung von Lücken oder die Beseitigung von Engpässen - auf der Strasse beispielsweise bei Härkingen; auf der Schiene rund um Zürich oder auf der Strecke Genf-Lausanne.

  • Es ist eine Tatsache, dass das Mehr an Mobilität die Infrastrukturen stärker abnutzt und nur schon der Substanzerhalt mehr Mittel verschlingt als budgetiert.
  • Es ist eine Tatsache, dass wir in den letzten Jahren viel ausgebaut haben, die Unterhalts- und Betriebsfinanzierung aber nicht im gleichen Schritt angepasst wurde.
  • Es ist eine Tatsache, dass unsere Bevölkerung zunimmt und die Kapazitäten mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt gehalten haben.

Wir brauchen daher Grundsatzüberlegungen, wie wir diese Mobilität mit dem vorhandenen System noch intelligenter, noch effizienter bewältigen können. Ein stetiger Ausbau, ein stetiges Abbilden der Mobilität; damit hinken wir der Realität nur hinterher. Der Staat sollte sich Gedanken machen, wie man diese Mobilität stärker lenken kann, wie man diese Mobilität nicht nur auf die Spitzenbelastung, sondern auch besser auf die 24 Stunden des Tages verteilen kann. Dabei sind die zu erwartenden grossen Aufwendungen nicht nur von der öffentlichen Hand aufzubringen.
Bezahlbar ist dieses System nur, wenn die Nutzer und Verbraucher ebenfalls und verstärkt ihren Anteil daran leisten.
Nur ein Beispiel: Beim öffentlichen Verkehr bezahlen die Nutzer nicht einmal die Hälfte der anfallenden Kosten.
Diese Rechnung geht nicht auf, vor allem dann nicht, wenn wir den Nutzern noch jedes
Jahr neue und mehr Leistungen zur Verfügung stellen.
Die staatliche Subvention stösst an Grenzen.

Zum Punkt zwei, der technischen Ausgestaltung. Auch hier gibt es viele Probleme, die wir genauer unter die Lupe nehmen sollten.

  • Dass bei der Sicherheit nicht gespart werden darf, das schulden wir der Bevölkerung. Lieber eine teure Unterführung als ein gefährlicher Bahnübergang.
  • Dass bei der Qualität Abstriche gemacht werden, kommt für die Schweiz auch nicht in Frage. Wenn am Gotthard zur Tunnel-Entwässerung falsche Kunststoffrohre eingebaut werden, dann kommt das letztlich teurer.

Kritische Fragen stellen sich aber für die technische Ausgestaltung und ich stelle diese Fragen:

Sind taghell ausgeleuchtete Tunnels wirklich überall notwendig?

  • Sollten wir vermehrt nachts reparieren, um Staus zu vermeiden?
  • Müssen 15,7 Kilometer Nationalstrasse (N4) im Mittelland wirklich 1,14 Milliarden kosten - 72,6 Millionen pro Kilometer, da könnte man viele Mehrfamilienhäuser hinstellen; 72‘000 Franken der Meter?
  • Müssen wir alle Ausbauwünsche berücksichtigen, und das erst noch gleichzeitig, oder müssen wir Prioritäten setzen, etwa gemäss dem grössten volkswirtschaftlichen Nutzen?

Die breite Flut von Begehrlichkeiten - dass er diese täglich auf seinem Schreibtisch hat, daran ist sich der Bundesrat gewohnt - sowie der bisher praktizierte helvetische Perfektionismus sowohl bei der regionalen als auch bei der technischen Erschliessung führt uns nicht zum Ziel.
Wenn wir den Standard halten und in einzelnen Bereichen noch ausbauen wollen, müssen wir Prioritäten setzen und es braucht zusätzliche Mittel.
Was im Privaten gilt, gilt auch für den Staat.
Nicht alles ist machbar !
Nicht alles ist bezahlbar !

Zum Punkt drei: Bei der gesellschaftlichen Akzeptanz von Infrastrukturanlagen stehen wir auch zunehmend vor Schwierigkeiten. Hier möchte ich bei den zeitlichen Abläufen beginnen. Das habe ich schon als Volkswirtschaftsministerin getan, und das setzt sich hier im UVEK fort.

 Nur einige Beispiele:

  • Bis Bahn 2000 stand, bis wir den Durchbruch am Gotthard feiern konnten, gingen Jahre ins Land. Wir hatten lange und komplizierte Bewilligungsverfahren auf allen Stufen des Staates. Wir hatten regelmässig eine Flut von Einsprachen, die rechtsstaatlich korrekt bereinigt werden mussten - oftmals bis vor Bundesgericht.
  • Bis eine Windenergieanlage gebaut werden kann, müssen mehrere Bewilligungsinstanzen durchlaufen werden.
  • Ich habe im Hochspannungsnetz Ausbauprojekte, die seit mehr als 30 Jahren wegen Einsprachen blockiert sind.

Wenn ich so in diese Welt hinausschaue, wie andere Staaten entscheiden und die Projekte dann in 10 Jahren gebaut haben, dann haben wir in der Schweiz mittelfristig ein Problem.
Wir müssen über die positiven Seiten der Individualisierung der Gesellschaft und die damit verbundenen Entfaltungsmöglichkeiten und die parallel dazu einhergehende Marginalisierung des Gemeinsinns diskutieren.
Jeder will heute alles und keiner macht Abstriche:

  • Möglichst bequem, schnell und jederzeit mit dem Zug von Zürich nach Bern - Lärm und neue Strecken werden aber als Ärgernis empfunden.
  • Jederzeit und von überall her mobil telefonieren - aber bitte kein neuer Sendemast in meinem Quartier.
  • Beim Strom werden neu die Freileitungen als Störung empfunden. Sie sollen in die Erde verlegt werden. Auch hier stellen sich Fragen von individuellen Ansprüchen einerseits und dem Gemeinsinn und der Verpflichtung anderseits, dies alles auch gemeinsam zu finanzieren.

Zudem stehen diese Wünsche zunehmend im Konflikt mit dem Kulturland. Auf der einen Seite wollen wir Naturpärke, unberührte Landschaften und eine hohe Versorgungssicherheit mit eigene landwirtschaftlichen Produkten. Auf der anderen Seite mehr Wohnraum, mehr Mobilität und damit mehr Infrastruktur. Und das alles auf einer Fläche, die bedingt durch unsere Geographie sowieso eingeschränkt nutzbar ist.

Das braucht Diskussionen. Diese Interessenkonflikte können wir nicht von oben herab lösen. Hier hat auch Ihr Verband die Verpflichtung aufzeigen, was im Sinne der Gesellschaft ist und wo einzelne Interessen im Sinne des Gemeinwohls zurückzustellen sind.
Dabei muss unsere Rechtsstaatlichkeit gewährleistet sein.
Auch will ich die Einwände von anderer Seite hören; Beschwerden und Einsprachen - aber bitte im Sinne einer schonenden Rechtsausübung und mit gesundem Menschenverstand, um einen Konsens zu finden.

 Wir müssen uns engagieren, dass wir verschiedene Verfahren vereinfachen und straffen können. Momentan bin ich mit einer Vorlage über das öffentliche Beschaffungswesen im Parlament. Hier diskutieren wir, ob wir bei Grossprojekten Einsprachen die aufschiebende Wirkung entziehen könnten. Bei Grossprojekten, wo ein kleines Problem vielleicht berechtigt ist, das gesamte Projekt damit aber auf Jahre hinaus verzögert wird.

Den Finger auf diesen wunden Punkt hat der Bundesrat bereits in seinem Infrastrukturbericht gelegt. Wir können es uns nicht leisten, nötige Infrastrukturprojekte im Verkehr oder in der Energie auf Jahre hinaus durch lange und komplexe Planungs-, Bewilligungs- und Bauverfahren zu blockieren. Ich denke deshalb darüber nach, wie wir besser zum Ziel kommen, um schneller verlässliche politische Entscheide treffen zu können. Das würde Sicherheit bringen und wäre dennoch demokratisch. Wenn wir es nicht schaffen, auch diese gesellschaftlichen Herausforderungen zu lösen, dann wird der Wirtschaftsstandort Schweiz im internationalen Wettbewerb verlieren.

Meine Damen und Herren,

Bauleute sind nicht nur auf Baustellen zu finden.
Auch in der Politik stehen wir immer wieder vor Baugruben; vor selber geschaufelten und vor anderen.
Und so, wie Sie als Bauchfachleute mit Margen, Material- und Umwelteinflüssen zu kämpfen haben, so bin ich daran, diesen Bauplan ebenfalls ständig zu überdenken.
Sicher ist eines: Wenn wir gemeinsam am Haus Schweiz weiterbauen wollen, dann brauchen wir ein gutes Fundament.

Dazu gehört, dass wir heute entscheiden müssen, wie wir im Jahre 2030 ein leistungsfähiges Verkehrsnetz sicherstellen - mit Schiene und Strasse, gemeinsam und nicht gegeneinander, mit den besten Lösungen für die Regionen.
Wir müssen heute entscheiden, mit welchen technischen Neuerungen wir den sich abzeichnenden Energieengpass (4 Säulen-Strategie des Bundesrates; intelligente Stromnetze) überbrücken können.

Infrastrukturen sind die Nervenstränge jeder modernen Gesellschaft. Ohne intakte, leistungsfähige, zukunftsorientierte Infrastrukturen bleibt jede Gesellschaft in ihrer Entwicklung stehen.

Wer im Haus Schweiz lebt, muss zahlen, was er konsumiert.
Wer das Haus Schweiz nutzt, muss Einschränkungen akzeptieren, weil er nicht alleine in diesem Haus lebt.
Wer am Haus Schweiz mit baut, muss konstruktiv und innovativ sein.

Ich danke Ihnen dafür, dass Sie am Haus der Schweiz mit bauen.


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